13. August 2005

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Ein Kavalier ist ein ritterlicher Mann, der Damen begleitet und ihnen im gegebenen Fall Platz macht. In dem hier vorliegenden Buch hat der Leser es mit der Seltsamkeit zu tun, dass die Nutznießerin des ritterlichen Verhaltens ebenfalls ein Mann ist. Noch seltsamer allerdings will es erscheinen, dass Ritter und ‚Dame’ die Plätze getauscht haben. Denn der Autor, Sollers, trifft auf seinen Kavalier, Denon, der ihm doch Platz machen muss, obwohl ersterer ihn scheinbar nur begleitet. Im vorletzten Kapitel des Buchs lesen wir – Denon leitet mittlerweile den Louvre, unter Napoleon: „Keine einzige Auskunft über Vivants Privatleben in dieser Zeit? Nein. Im Allgemeinen wissen wir nichts von seiner persönlichen Existenz.“ Beste Voraussetzungen, das ‚System Sollers’ zu installieren.

 

Was übrigens jeder kennt und das schon das Neue Testament unter dem Namen der Prozedur des Pfropfreisers gleichnishaft verarbeitete. Nur erhält dieses System, wie mir scheint, bei diesem Autor und vielleicht am ausgeprägtesten bei eben diesem Buch seine paranoischen Weihen, und dies auf eine so radikale Art, dass der Leser – der heutige technologische Kontext legt es nahe – nicht übertreibt, wenn er bei diesem Verfahren an so etwas denkt wie literarisches Klonen. Die Aushöhlung ist da („wir wissen nichts über ihn...“), die Eizelle, das lebende Syndrom Vivant Denon, längst vergangen, also statten wir diese Leerstelle ein wenig aus, das 18. Jahrhundert des Libertin ist sowieso unsere Lieblingszeit, und die ‚Operation Sollers’ kann beginnen. Diese besteht ganz einfach darin, die leeren Räume durch den stark gemachten Möglichkeitssinn zu besetzen: Was dabei herauskommt, kann man mit dem Wort Insinuierungsliteratur bezeichen.

 

Ein Beispiel: Um die Zeit des Ausbruchs der französischen Revolution und ihrer Pervertierung in den tugendhaften Terror verbringt Denon einige Jahre in Venedig. Ah, Venedig, der Liebling Sollers’ unter den Städten, und das nicht aus morbiden Gründen à la ‚Tod in Venedig’, sondern aus einer absoluten Affirmation heraus, des Lebens, der Kunst, in Venedig also, wo Denon rund fünf Jahre verbringt, von denen auch die gelehrtesten Biografen nicht viel mitzuteilen haben, soll Denon von einer Vision heimgesucht worden sein, die keine andere ist als die der Kollektion von Kunst, ihre Versammlung an einem Ort, der ihr von ihrem Kavalier eingeräumt wird: „In Venedig, will mir scheinen, hat Vivant die Offenbarung eines Tempels der Kontemplation gehabt. Der spätere Louvre.“

 

Zugegeben: Man muss schon viel wissen – und Sollers weiß sehr viel – um Verknüpfungen herstellen zu können, die eben nur vor einem Hintergrund an interessierter ‚Malerei’ laufen. Aber genau darin besteht auch der immense Zwang oder auch die eigene Verführung durch sich selbst, seinem Gegenstand keine andere Laufrichtung mehr zu gönnen. Der auf sich selbst, auf seinen eigenen Schaft als Vagina zurückgebogene Schwanz, technoide Form der Selbstverlustigung (zum Anschauen: „Frame“, 04.2000, S. 65). Die Optionen sind klar: Entweder Sie gehören zu den happy few und zirkulieren kräftig mit trotz oder gerade wegen dieses paranoischen Klebestreifens, oder Sie werden herausgeworfen, als Fremdkörper, als einer, der daneben liegt, der das Buch dann getrost zuschlagen kann. Wählen Sie. Wenn Sie können.

 

Dieter Wenk (02.01)

 

Philippe Sollers, Le Cavalier du Louvre. Vivant Denon (1747-1825), Paris 1995 (Der Kavalier im Louvre, Wunderhorn 2000)