7. August 2005

Härtetest

 

Einer dieser Entweder-oder-Romane: Entweder man ist sofort und bis zum Ende begeistert, oder man begegnet dem Text vielleicht zunächst mit etwas Reserve, die sich dann auswächst zu verschiedenen Haltungen, Abneigung, Ekel zum Beispiel. Die Akteure dieses kleinen Bildungsromans stammen aus der medizinischen Aktentasche, es sind Nadeln, Medikamente, Impfstoffe, Scheren, Antidepressionspillen, Jodsalben etc. Auf den ersten hundert Seiten passiert nichts anderes, als dass ein junges Baby, dessen Eltern unbekannt sind, von einer völlig wahnsinnigen jungen Ärztin, Dolly, ständig auf- und zugenäht wir. Diese Handlung verselbstständigt sich völlig gegenüber derjenigen, die die Nadel führt, sie kann nicht anders. Dolly muss sich vergewissern, dass das Baby, ‚Sohn’ genannt, nichts hat. Einmal zählt sie seine Nieren. Sie kommt immer wieder zu anderen Ergebnissen. Sind es zwei Nieren, oder doch nur eine? Sie setzt fest, dass Sohn nur eine Niere hat. Das geht natürlich nicht. Jeder Mensch braucht Nieren.

 

Also fährt sie nach Deutschland (Dolly ist Jüdin!!!), um dort eine Niere zu klauen. Sie landet in Düsseldorf und lernt eine Nymphomanin kennen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, kleinen Kindern zu helfen. Dolly ‚untersucht’ dort einige deutsche Kinder, wobei die meisten draufgehen, die nötige Niere kann sie natürlich retten. Nach der Operation an ihrem Sohn fragt Dolly sich, ob ihr Sohn vielleicht jetzt doch eher drei Nieren hat. Sie schneidet ihn wieder auf, und in der Tat, ihr Verdacht bestätigt sich, bei ihrer Zählaktion kommt sie meistens auf drei, einmal auch auf vier. Jetzt weiß sie aber nicht mehr, welches die deutsche Niere ist. Aber das macht ja bekanntlich nichts, so die Niere nur tüchtig arbeitet, was man von einer deutschen Niere allemal erwarten darf. Obwohl sich also Dolly so rührend nähend um den fremden Nachwuchs kümmert, muss sie dann doch das Kind abgeben, ein Psychiater ist überhaupt nicht damit einverstanden, wie sie damit umgeht. Sie wird eingewiesen, natürlich kann sie fliehen (den Psychiater wird sie später kastrieren, gerade in einem schönsten Moment). Sohn wird zur Mutter Dollys gebracht. Dort bleibt er nicht lange. Sie holt ihn sich zurück.

 

Einmal, als sie mal wieder interniert ist, sieht sie Sohn sechs Jahre lang nicht. Als sie ihn wieder sieht, fragt sie sich erst, ob er’s auch wirklich ist, aber dann schaut sie sich seinen Rücken an, auf den sie die Karte Israels tätowiert hatte. Da ist sie. Aber was ist passiert? Die Karte hat erneut die Grenzen von 1967, also die vor dem Sechs-Tage-Krieg. Das macht sie sehr traurig. Traurig ist sie auch, weil sie sehr fett geworden ist. Es kommt aber noch schlimmer. Ihr Sohn geht zur Marine, ins Internat für brutale Seefahrt. Dollys Vater war ja bei der Luftfahrt, sein Ende schiebt Dolly seinen Arbeitgebern in die Schuhe, obwohl sie es war, die ihm die erlösende Spritze gab.

 

Am Ende wird Dolly City brutalst von der französischen Luftwaffe bombardiert (auf Geheiß der Deutschen, die Franzosen machen alles, was die Deutschen sagen) und ganz am Ende erfährt Dolly von einer gescheiterten Flugzeugentführung. Das muss ihr Sohn gewesen sein. Der auf der Flucht ist. Aber für die hat sie ihn wohl einigermaßen ausgerüstet, meint Dolly, oder, frei nach einem alten deutschen Sprichwort, was uns nicht umbringt, macht uns nur härter. Übrigens: wenn Sie wissen wollen, was die ‚Putzlappenerfahrung’ ist, müssen Sie das Buch auf jeden Fall lesen. Wohl bekomm’s.

 

Dieter Wenk (01.01)

 

Orly Castel-Bloom, Dolly City, Reinbek bei Hamburg 1998 (Rowohlt Taschenbuch); “Dolly City”, Tel Aviv 1992 (Zmora-Bitan)