29. Juli 2005

Vorgebirge ikonografischer Ermittlung

 

Salomo 11,21: „Alles hast du wohl geordnet, nach Maß, Zahl und Gewicht.“

 

In der astrologischen Tradition sind die Geometrie und die an sie gebundenen Berufe dem Saturn zugeordnet, so kann man die Saturnische Messkunst als Fähigkeit des melancholischen Temperaments auffassen. Saturn ist der Gott der Bergleute und Alchemisten. Saturn ist auch der Sachbearbeiter der Melancholiker.

 

Wenn ein junger Mann sich das Dichten nicht verkneifen kann, das Graben in Wortmassiven und die alchemistische Neukombination auf der Suche nach Wahrheit, verlegen freundliche Menschen eine Sammlung dieser Anstrengungen in einem schmalen Bändchen, auf dessen Umschlag ein Hirsch im Gebirge die Ringe des Saturn anbrüllt.

 

Dieser Hirsch, ich nenne ihn jetzt mal Steffen Popp, brüllt nicht nach frischem Wasser, sondern nach seinen Steigeisen. Steigeisen für Worte wie Alpen. Diese Gedichte sind Illustrationen von Worten. Das heißt, bevor die Buchstaben zu ansehnlichen Hügeln zusammengeschoben werden, sind die Worte bereits in einer „Argumentenmappe“ gesammelt, als Worte, nicht als Dinge. Die Gedichte bestehen aus nichts als Zeichen, es sind keine Darstellungen von Natur und Gott sei Dank auch keine Selbstporträts.

 

Die fest verankerte Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung ist aufgegeben. Der Hirsch wie der Leser sehen sich vor der verzwickten Aufgabe der Erzeugung Sinn vermittelnder und verstehbarer Zeichen, abgekoppelt von der Welt, sozusagen aus Saturnentfernung blickend. Die Probleme beginnen mit der Identifizierung der aufgeschriebenen Worte.

 

Ist es der Wortsinn, der übertragene Sinn, das Teekesselchen oder der Unsinn? Z. B. bei Kombinationen wie: „Bonsai – Kathedrale“ und „Schlaf – Boje“, (Um einen Anfang zu machen: Bonsai, klein – Kathedralen, groß. Heulbojen bei bewegter See sind tosenden Chorproben in Kathedralen nicht unähnlich, aber Schlaf – Bojen sind dann eher die Verheißung eines Sturms, wie Bonsais eben die Verheißung eines Baums sind.) Bei den Germanisten nennt man das manchmal Chiasmus. Die Gedichte Steffen Popps sind voll davon.

 

Die Kette von scheiternden Versuchen, ein Sinnganzes zu erfassen, die dann bald selbst Züge des melancholischen Syndroms trägt, bringt den Hirsch zum brüllen und den Leser zum Abirren und Mondlanden. Man sollte sich beim Lesen nicht von realistischen Zusammenhängen verleiten lassen, die später nur bestimmte Kombinationen von Inhalten verhindern, sondern man sollte vom Sinnbildlichen der einzelnen Worte ausgehen.

 

Die „Argumentenmappe“ der zusammengesuchten Worte ist verwandt mit den Argonauten, den hirnverbrannten Seefahrern auf der Suche nach dem Goldenen Vlies, denen der Hirsch, in kollegialer Verbundenheit mit dem Goldfell des Widders, auch ein Gedicht widmet.

 

Weder die Ordnung der Dinge, noch die Ordnung des Himmels halten objektive Antworten für das Dichten bereit. Der Saturnische Dichter nutzt diese vertrauten Ordnungen zu eigenen Bedingungen. Zu einem Weltentwurf in Zeichen unter neuen Prämissen. Da ist er also doch, der Weltentwurf. Die Zeichen laden ein, zu labyrinthischem Bedeutungsbudenzauber im All. Es ist mal wieder Anbruch der Neuzeit.

 

Nora Sdun

 

Steffen Popp: Wie Alpen, Gedichte, 70 Seiten, Kook books 2005, kookbooks

 

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