28. Juli 2005

Früher Terrrorismus und vergebliche Liebesmüh’

 

Es wäre eine dem Fortschritt der Menschheit äußerst zuträgliche Erfindung, wenn es der Geschichtswissenschaft gelänge, eine Art Verschieberegler zu konstruieren, mit dessen Hilfe man bestimmte Ereignisse oder Figuren quer durch die Geschichte scrollen könnte. Welche Funktion, das ein Ereignis x zu dem und dem Zeitpunkt gehabt hat, würde es zu einem anderen Zeitpunkt haben? Hätte eine Person P zu anderen Zeiten gleiche Aufstiegschancen und wie würde man ein solches Gelingen interpretieren? Hitler wäre zu Napoleons Zeiten vermutlich nicht aufgefallen, seine temporäre Blindheit hätte vielleicht nicht kuriert werden können oder man hätte ihn in die Akademie aufgenommen. Stendhals Erzählung von 30 Seiten gibt Gelegenheit, darüber nachzudenken, was es für eine heutige Konstellation bedeuten könnte, wenn in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts jemand als Freiheitskämpfer bezeichnet wurde (in diesem Fall handelt es sich um die Gruppe der Carbonari).

 

Ein junger Römer, Pietro Missirilli mit Namen, ist ein glühender Verehrer eines Italien, das es noch nicht gibt. Er und seine Mannen kämpfen für die Fortsetzung der französischen Revolution in einem anderen Land. Missirilli gelingt es, aus dem Gefängnis zu fliehen. Er wird schwer verletzt, ein hoher Adliger nimmt ihn in seinem Palast auf. Die Tochter des Adligen, Vanina Vanini, lernt den Verschwörer kennen – und lieben. Eine sehr schöne Stelle, die es an Komik mit Sokrates’ Erwähnung des Hahns, den er noch schuldet – geäußert in der Stunde seines eigenen Todes – , aufnehmen kann, zeigt, dass die Liebe, wie so oft bei Stendhal, nicht reversibel ist. Immer muss man hier für etwas schuften, etwas beweisen, die authentische Liebe ein Wackelkandidat eines obskuren Pflichtprogramms. Von Anfang an treiben die beiden verschiedene Ziele an, Vanina geht es um die Gewinnung Pietros, mit dem sie aus Rom zu fliehen gedenkt, Pietros Absichten erfährt der Leser eher indirekt, nämlich durch die Enttäuschungen, die er Vanina bereitet. Es gelingt Vanina, ihren Freund aus Rom fortzuschaffen und ihm die Gelegenheit zu geben, sich mit seinen Kombattanten zu treffen. Vanina verrät die anderen, um Pietro für sich allein zu haben. Pietro verzweifelt, weil die anderen denken könnten, dass er sie verraten hat. Pietro tanzt nicht nach Vaninas Pfeife, das Vaterland ist immer dazwischen. Er stellt sich den Behörden, wird zum Tode verurteilt, Vanina gelingt es, in einer Nacht- und Nebelaktion, die sie beinah selbst zu einer der Carbonari macht, die Hinrichtung zu verhindern und mit Pietro zu sprechen. Die Feile für die Ketten hat sie auch dabei. Allein Pietro hat mittlerweile Gelegenheit gehabt, in den Stunden der Haft mit den segensreichen Erfindungen der katholischen Religion wieder Kontakt aufzunehmen, denn im Moment des Scheiterns seines Rettungsprogramms bleibt ihm nichts anderes. Vanina ist verstört, verärgert, und provoziert ihrerseits nun Pietro, indem sie ihm die volle Wahrheit sagt, dass sie seine Kameraden denunziert hat. Das ist ein absoluter Liebesbeweis, zugleich natürlich in Pietros Augen das eigene Todesurteil, er stürzt sich mitsamt seinen Ketten auf die junge Frau, der Wärter kann das Schlimmste verhindern.

 

Heute, wo die Freiheit da ist, gibt es keine Freiheitskämpfer mehr. Man nennt sie Terroristen, und die Terroristen nennen die Freiheit einen Knast. Die Regler scheinen eine vertrackte Endlosschleife zu bedienen.

 

Dieter Wenk (07.05)

 

Stendhal, Vanina Vanini, oder: Einzelheiten über die letzte Verschwörung der Carbonari, die im Staate des Papstes aufgedeckt wurde, in: Stendhal, Die Äbtissin von Castro, Vanina Vanini. Novellen, Stuttgart 1966 (Reclam)