27. Juli 2005

Wachsende Auflösung durch Elementarteilchen

 

1998. Goetz schreibt sein Internettagebuch. Abfall für Alle. Abfall vor allem aus Berlin, aber auch aus Frankfurt, Poetikabfall. Und trotz Poesie, Goetz könnte man sich schwerlich in Venedig vorstellen, einem der Orte, wo Sollers ganz gern aufkreuzt, auch 1998. Bei Sollers bekommt jeder Tag, an dem er Aufzeichnungen schreibt oder Zitate anbringt, einen Rahmen, oder eher einen Tageseingangswetterbericht. Kalt, warm, Färbung des Himmels und so weiter. Dann geht es gleich los. Hin und wieder Politik, wo er mit rhetorischen Fragen und einer Zurückhaltungsethik im Urteil mit Insinuierungskoeffizient für Steigerungsinteresse an seiner Person wirbt. Ständiger Begleiter die Bemerkungen zur Clinton-Affäre. Manchmal ganz gute Beobachtungen, auch wenn man nicht weiß, ob sie von ihm stammen. So etwa, dass man eigentlich nicht weiß, wie Monica Lewinsky spricht, man kennt lange Zeit überhaupt nicht ihre Stimme. Ständige Begleiter, leider, seine Hinweise darauf, dass er eigentlich zu allen Themen schon alles gesagt hat. Sehr unangenehm.

 

Hierzu gehört vielleicht auch die Art, wie er Houellebecq (um)interpretiert. Seine erste Notiz zu ihm, vom 19. August, sehr kritisch, ja abweisend. Im August noch ein, zwei skeptische Einwände, aber es fällt schon das Wort des Interessantseins. Dann im September, erste Begegnung, auf Distanz, mit dem Jungstar. Man merkt, Sollers beginnt, sich neu zu sortieren. Vielleicht doch nicht so übel, dieser Kerl. Dann die erste Engführung mit eigenen Gedanken, Sex habe aristokratisch zu bleiben, alles andere verdoppele nur die Not, und Michel habe Recht, sich darüber zu beklagen. Nur sehr wenige Menschen würden wissentlich genießen (das ist die Sade-Affinität speziell bei Sollers, allgemein bei vielen Franzosen). Am 9. September erstes Essen mit H. Vater-Sohn. Der gute muss noch viel lesen, ja ja. Ende September lacht man bereits zusammen, Anlass ein Gespräch für den Nouvel Obs. Anfang Oktober, Attacken, von links, gegen H., gefundenes Fressen für S.: „Natürlich verteidige ich H.“ Der Kampf beginnt, Allianzen, Gegner. Was S. von H. hält, ob sie nicht diametral entgegengesetzt wären, der Casanova und die Elementarteilchen. Aber ja, aber der Angriff geschieht nur von verschiedenen Seiten, zielt auf die gleiche Misere. Man wirft S. vor, unter anderem die Frauen der Gesellschaft, diesen Halbclochard zu unterstützen. Wen er jedoch gar nicht mag: die Duras. Ob das nur an der Biografie liegt, die ebenfalls 1998 erschienen ist? Ihre dunkle Vergangenheit, die sie immer unter den Teppich gekehrt habe. Es ist ihr Stil, le style, c’est la femme. Hypnotisch, gurumäßig, Hare krishna. Irgendwie stimmt das auch. Aber das ist natürlich kein Einwand. Man könnte die ganze Musik vergessen, die ohne ihren Magneten überhaupt nichts wäre.

 

Aber das gehört zum Betrieb dazu, forcierte Gegnerschaften, die den Eindruck entstehen lassen, dass es nach wie vor um etwas Größeres geht, um steuerbare Perspektiven, die an vielen anderen Stellen des Tagebuchs und auch sonst annulliert sind. Ich schreibe doch nicht zu meinem privaten Vergnügen, nein, wer Ohren hat zu hören und so weiter, die happy few werden es ihm danken.

 

Dieter Wenk (12.00)

 

Philippe Sollers, L’Année du tigre. Journal de la fin du siècle – 1998, Paris 1999 (Seuil)