22. Juli 2005

Der Bärendienst der Krankenkassen

 

Einem doppelten Zufall verdankte es der Autor und Journalist Pierre Rey, eine Saison – immerhin zehn Jahre – bei Jacques Lacan verbracht zu haben. Irgendwann lernte Rey einen gewissen le Gros kennen, dem dieses Buch gewidmet ist, mit dem er in den Boxring stieg und der sich als Psychoanalytiker entpuppte. Als es Zeit war, selbst eine Analyse zu beginnen, nannte ihm le Gros drei Namen: Clavreul, Perrier, Lacan. Der erste war beschäftigt, der zweite abwesend, der dritte empfing ihn. Rey hatte Glück. Nach fünf Sitzungen bei Lacan hatte dieser sich entschieden, Rey als Analysand zu akzeptieren. Diese fünf Sitzungen waren nicht der Anfang der Analyse, sondern ein Test, bei dem auch das „Begehren des Analytikers“ eine Rolle spielte. Und dieser Test war natürlich kostenpflichtig. 300 Francs pro Besuch. Da Pierre Rey keine Krankenkasse zur Seite stand, musste er alles selber bezahlen – ganz im Sinne des Erfinders der Übung, Freud. Bei etwa fünf Sitzungen pro Woche und zehn Jahre Behandlungszeit kommt man auf umgerechnet etwa 100.000 €. Keine Frage, dass Pierre Rey nur zu bald sein Begehren nennen konnte, denn das ist der Sinn der Lacan’schen Analyse: Rey musste Bestseller-Autor werden, um die Stunden bezahlen zu können. Immerhin schrieb er drei Romane während dieser Zeit, ein Argument gegen die, die glauben, dass eine Analyse die für die Kunstproduktion notwendige Neurose vertreibt.

 

Über Lacan als Privatperson erfährt man auf diesen Seiten nichts. Rey scheint auch nicht seine Seminare besucht zu haben, obwohl Lacan das seinen Patienten empfohlen hat. Aber auch über den Psychoanalytiker Lacan erfährt man nicht viel. Kaum eine erwähnenswerte Anekdote. Dafür bedienst sich Rey ausgiebig des Lacan’schen Vokabulars, ohne dieses als solches zu kennzeichnen, und baut im Laufe des Berichts eine ganze Batterie von Lebensweisheiten auf, die Rey verzeichnet und vom Meister unbesehen autorisiert sind. Eigentlich bleibt bis zum Schluss unklar, warum Rey eine Analyse machte. Man hat den Eindruck, dass der Name Lacan wie ein Köder benutzt wird, um ein bisschen aus dem eigenen Leben plaudern zu können, und das, was erzählt wird, bleibt nicht so furchtbar lang im Gedächtnis. Aber vielleicht ist das alles Strategie und die wachsende Unduldsamkeit des Lesers ein wohlbedachtes Instrument des Autors, den Leser mit seinem eigenen „Begehren“ bekannt zu machen, sollte dieser noch nicht so weit sein. Für diese zentrale Abwesenheit hat Pierre Rey ein Bild, die „Spitzenklöpplerin“ von Vermeer, genauer gesagt, das, was auf diesem Bild fehlt, nämlich die Nadel. Ähnlich wie die Nadel auf dem Bild sucht man „Lacan“ vergebens in Reys Buch. Er glänzt durch Abwesenheit. Aber auf dieses Fehlen komme es an. Über den Umweg des fehlenden Autors (Lacan und, so darf vermutet werden, in Stellvertretung Pierre Rey selbst) hat der Leser Kenntnis zu nehmen von dem Mängelwesen, das er selber ist.

 

Die sehr impressionistische und anekdotische Berichtererstattung dient als luftiges Raster, durch das der Leser seinen eigenen Weg vorwegnehmend beschreiten soll. Aber dieses Raster ist selbst schon Geschichte. Die fehlende Nadel fehlt immer nur in einem bestimmten Bild. Dieses Buch ist ein langer Umweg. Aber man kommt nirgends an.

 

Dieter Wenk (07.05)

 

Pierre Rey, Eine Saison bei Lacan, Wien 1995 (Passagen) ; Une saison chez Lacan, Paris 1989