22. Juli 2005

Beschleunigte Uraufführung

 

Auch die brillanteste, einleuchtendste, wahrste Kritik von Einrichtungen, Institutionen, Gewohnheiten kommt an einen Punkt, wo sie ihren Ausgangspunkt zu erkennen gibt, die Sprungfeder, mit der sie ihre Argumente abschießt und in Umlauf bringt – und sei es nur bei Gelegenheit einer ganz gewöhnlichen Zugfahrt. Da ist also jemand, er ist gezeichnet, der einigen Mitreisenden die Wahrheit über Liebe und Ehe sagen zu müssen meint. Meistens kauert er, bis es so weit ist, nur so in der Ecke herum, wirkt abweisend und scheint doch alles peinlich genau eingesammelt zu haben, was bis dato zum Thema gesagt wurde. Dann fühlt er sich erkannt, sein Name fällt, es ist eher ein Zufall, aber er findet einen willigen Zuhörer, den Erzähler, der sich hin und wieder durch bescheidene Fragen bemerkbar macht.

 

Der Vortrag ist sehr heftig. Dass die Liebe nicht existiere, dass die Ehe auf zwei separaten, nicht miteinander zu vereinbarenden Egoismen beruhe, dass die Auserwähltheit des Liebespartners eine Tatsache sei, von der man den Zeitfaktor vergesse. Danach fange die Hölle an, von wegen Gemeinsamkeiten. Früher sei es übrigens weiser eingerichtet gewesen, wo man von Liebesheirat noch nichts wissen wollte/konnte. Die jetzt zudem eine einseitige sei, nur den Mann betreffend, die Frau zum Liebesobjekt degradierend. Frauen, die sich allerdings zu helfen wissen. Die Sinnlichkeit, die allein der Mann sucht, verstehen Frauen – jedenfalls eine bestimmte Klasse – zu funktionalisieren, sehr einfach zu wissen, wie Männer ausgerichtet sind, wo sie fallen, mit ihnen, den Frauen. Und so folgt eine Desillusionierung der anderen, man fragt sich als Leser, wer da eigentlich spricht, ein Nihilist, ein enttäuschter Erotomane, bis man so langsam die Richtung gewiesen bekommt. Es fallen Wörter wie Reinheit, Sittlichkeit, höher stehend, und man bekommt erklärt, inwiefern das Motto am Anfang aus dem NT so revolutionär ist, das Gebot mit dem Anschauen der fremden Frau, der Frau des Nachbarn, denn die Frau des Nachbarn ist prinzipiell keine andere als die eigene Gattin, mit der man demnach auch im heiligen Stand der Ehe unsittlich leben könne.

 

Und spätestens in diesem Moment wird für manchen Leser eine ganze kritisierte Welt, eine niedergemachte, aus den Angeln gehobene vielleicht doch wieder anfangen, ein wenig Luft eingeflößt zu bekommen, aus der reinen Ausweglosigkeit heraus, nicht mit diesem Kritikerstandbein sich aufstützen zu können. Man wird anfangen, den geschickten Kritiker selber mit den anderen Augen zu lesen, auf bestimmte Wörter wie ‚Ekel’ beginnen Acht zu geben, auch auf gekränkte Eitelkeiten und auf diesen zentralen Aspekt der Eifersucht, und zwar die frei flottierende Variante, denn bis zum Ende bleibt unklar, ob die werte und gehasste Gattin ihn tatsächlich betrogen hat. Die Moral von der Geschichte: Wer sein eigenes wildes Tier nicht ertragen kann, muss sich selbst abschießen, aus dem Rennen nehmen. Solche Leute haben manchmal das Zeug zum Fanatiker.

 

Dieter Wenk (12.00)

 

Tolstoi, Die Kreutzer-Sonate