12. Juli 2005

Zyklische tabula rasa

 

Der Auszug der Nazarener aus der (Wiener) Akademie wurde vor kurzem als erste Sezessionsbewegung gefeiert (Einzelaustritte gab  es freilich schon früher, siehe Fragonard). Thematisch kann man von dieser Verweigerungshaltung durchaus enttäuscht sein. Religiöse Bilder ohne Ende, eine Neubegründung der Kunst würde man sich nicht nur damals anders vorgestellt haben. Philipp Otto Runge, obwohl zeitlich etwas früher, war hier erheblich weiter, denn auch er wünschte sich die Geburt einer neuen Kunst, sah aber keine Möglichkeit, alte Geschichten bloß aufzuwärmen, sein lakonischer Spruch: „wir sind keine Griechen mehr“ trifft vorlaufend auch schon die abweichenden und doch so braven Nazarener. Runges Formulierungen bezüglich einer Revolution in der Kunst haben bisweilen etwas gewalttätiges, erstaunlich bei einem Künstler, den man vor allem als Maler der „Hülsenbeckschen Kinder“, der „Nachtigall“ und der „Tageszeiten“ kennt. Runge aber ist ein echter Fan von Tabula-rasa-Verhältnissen. Nichts weniger als das Jüngste Gericht muss es sein, damit sich die eingefahrenen und doch dem Untergang geweihten künstlerischen Bedingungen radikal ändern können. In einem Brief aus dem Jahr 1802 an den Bruder Daniel, der Philipp Otto finanziell unterstützte, heißt es apokalyptisch:

 

„Ich dachte einmal so an einen Krieg, der die ganze Welt umkehren könnte, oder wie so einer eigentlich entstehen müsste, und sah eben gar kein anderes Mittel – da der Krieg nun durch die ganze Welt hin zu einer Wissenschaft geworden, und also gar kein rechter mehr existiert, oder da auch kein Volk mehr vorhanden ist, welches ganz Europa und die gesamte kultivierte Welt einmal massakrierte, wie die Deutschen es mit den Römern gemacht, als der Geist von diesem Volk gewichen ist – ich sah, sage ich, kein anderes Mittel, als den Jüngsten Tag, wo die Erde sich auftun und uns alle verschlingen könnte, das ganze menschliche Geschlecht, sodass auch gar keine Spur von all den Vortrefflichkeiten heutigen Tags nachbliebe.“

 

Diese Vision, mit der Runge bei einigen Adressaten auf völliges Unverständnis stieß, hat gleichwohl Methode, denn sie ist Teil seiner Philosophie, nach der alles, was entsteht, auch einmal untergehen muss. Die Krassheit obiger Formulierung ist Runges Bildwelt allerdings völlig fremd. Das liegt vor allem daran, dass er auch da, wo er realistisch ist, wie etwa bei den Hülsenbeckschen Kindern, in erster Linie Allegorisches intendiert. Die Kinder integrieren sich in eine paradigmatische Reihe, linguistisch gesprochen. Allegorisch sind sie koextensiv mit dem Frühling, der Quelle, Morgen, dem Erwachen des Menschen sich selbst gegenüber, dem Wachsen einer Nation und allem, was gerade eine Phase der Vernichtung und des Todes hinter sich hat. Runge denkt zyklisch, das Rad der Geschichte dreht sich unerbittlich, für Kapriziöses wie das Rad der Fortuna ist hier kein Platz. Dieses Geschichtsmodell ist unerbittlich wie der Tod, aber der Tod hat nicht das letzte Wort. Bei Runge soll alles mit dem Frühling aufhören (was natürlich nicht geht), es gibt so etwas wie eine Punktierung, eine Synkopierung des Geschehens, und das ist die Zutat des Künstlers.

 

In den hier vorliegenden Briefen wird Runge nicht müde, von diesen Revolutionen zu sprechen. Und er merkt, dass er darüber sprechen muss, denn seine allegorische Kunst liest sich nicht wie von selbst. Sie bedarf des Kommentars. Runge ist einer der ersten konzeptuellen Künstler. Er löst sich vom akademischen Betrieb (was der klassizistisch verhaftete Goethe eigentlich nicht gerne sieht, bei Runge macht er mit gönnerhafter Erlaubnis aber eine Ausnahme), probiert Sachen aus, bleibt an Arbeiten jahrelang hängen (die Tageszeiten), muss immer wieder unterbrechen, versucht, Theorie (seine Farbkugel) in seine Malerei zu integrieren, was den Malprozess nicht gerade beschleunigt, am Ende seines kurzen Lebens hat er nicht viel vollendet. Es ist wohl eher schwer, ein Freund der Kunst Runges heute zu sein, aber der Impetus, der aus seinen Briefen spricht, vermag noch heute zu beeindrucken und zeigt einen Künstler, der mal begeistert, mal verzweifelt versucht, dem „Seinesgleichen geschieht“ zu entkommen und der bereit ist, dafür den Preis zu zahlen, nämlich das Risiko von Erfolglosigkeit.

 

Dieter Wenk (06.05)

 

Philipp Otto Runge, Die Begier nach der Möglichkeit neuer Bilder, Leipzig 1982 (Reclam)