10. Juli 2005

Im Banne des Sexus

 

Vielleicht hat er Blut geleckt und ist darüber in Erregung geraten, oder wie wollen Sie sonst die Schenkung des Hemdes motivieren. Heißt es nicht gleich am Anfang: „Denn sie war in dem Alter in dem der Mond ein Kind mit dem ersten unverstandenen Leid bedroht…“ Dass die Jungfrau Maria mit dem nackten Jesuskind durch deutsche Auen spaziert, „um ihm an einem deutschen Sommermorgen zu zeigen, wie herrlich die Welt war die sein himmlischer Vater erschaffen hatte“, muss wohl als eine jener unerklärlichen Prüfungen gesehen werden, an denen die heilige Katholizität das unendliche Zählen gelernt hat. Nebenbei geht es natürlich um deutsch-geografische Verführungskunst, also um die Tatsache, dass sich Wunder nicht an jedem Fleckchen Erde ereignen und auch die Sonne sich artig dafür bedankt, „ein deutsches Wiesental an einem Frühlingsmorgen“ zu bescheinen.

 

Da begegnen sich also das Mädchen, das von allen Evchen genannt wird, früh ihre Eltern verlor und bei einem reichen Sägemüller aufwächst, und das Jesuskind mit seiner Mutti, und es passiert die Seltsamkeit, dass eine Nacktheit gegen eine andere ausgetauscht wird. Evchen schenkt Jesus sein Hemd. Jetzt steht sie also nackt da. Das sieht Maria nicht gerne. Oder sie kennt sich aus mit der Geschwätzigkeit der Welt. Jedenfalls wirft sie einen Bann auf Evchen, auf dass es nicht mit begehrlichen Blicken angeschaut werde. Das ist natürlich nicht schön, denn jetzt, mit dem ersten Blut, geht die Jugend ja erst los. Was hilft die ganze Pracht und Schönheit (Evchen läuft fast immer beinah ganz nackig durch die Welt, da sie ein Gelübde getan hat, die Schenkung des Hemdes an Jesus nicht zu profanieren), wenn niemand, auch ihr Mitbewohner Konrad nicht, der Sohn des Sägemüllers, der sie liebt, aber nicht begehren kann, an sie rankommt. Evchen weiß nichts von dem Bann, der sich zu einem regelrechten Fluch auswächst. Als eine Konkurrentin ihr Konrad abspenstig zu machen versucht, geht sie in die Offensive. Sie zieht sich auch ordentlich (also geil) an mit allem Pipapo und wird richtig vulgär, indem sie wildfremde Männer in der Stadt anspricht (mitgeteilt wird das aber ganz dezent). Die wollen aber nichts von ihr. Heilige und verdammte Frau. Das weibliche Pendant zum homo sacer. Schließlich verschärft sie ihr Vorhaben. Sie betritt ein Bordell und stellt sich mit den anderen Mädels auf.

 

Aber auch hier wirkt das Kainszeichen. Evchen ist ungenießbar. Was für eine Strafe. Oder ist es eine Prüfung? Aber für was? Dann macht sie eine Analyse mit sich selbst. Das macht sie ganz gut. Da war doch diese seltsame Frau mit dem nackten Knaben. Seitdem lief die Sache schief (auch wenn sie davor noch gar nicht richtig installiert war). Aber auch hier fehlt ihr ein letzter Zugang zum Geheimnis. Dann wird’s modern. „Zwei sehr schöne in weite Schleier gehüllte Frauen“ entsteigen einem „feinlackierten“ Reisekraftwagen, suchen im Dorfgasthof Unterkunft und verlangen nach zwei Rosenkränzen, mit denen sie ihr Haar für eine Abendveranstaltung bekränzen können. Als Blumenspezialistin wird nach Evchen geschickt (sie wird auch Efeuchen genannt), die ihren Job auch sehr gut macht. Die Schwestern, die sich sehr ähnlich sehen, und die Evchen irgendwie an eine Person von früher erinnern, heißen, um keine Verwechslungen zu erlauben, Maria und Magdalena.

 

Und hier, in dem Hotelzimmer, findet Evchen endlich ihr Hemdchen, das sie, die beiden Damen bestehlend, anzieht. Erst jetzt, nach überlanger Latenzzeit, verfügt sie gewissermaßen über das Häutchen, das Konrad, nachdem die Schranke gefallen ist, durchbrechen darf. Was aber will uns diese heidnisch-christlich-nationalistische Erzählung wirklich sagen? Hier kann man nur noch staunen. Fast schon hundert Jahre lang.

 

Dieter Wenk (05.05)

 

Rudolf G. Binding, Keuschheitslegende, Potsdam o.J. (Rütten & Loening)