24. Juni 2005

Osteuropäisches Durcheinander

 

Was für ein Text. Arglos liest man los, zweimal leicht geblättert, und dann das: „Karl-Joseph Zumbrunnen, wie alle meine Helden, liebte das Wasser sehr.“ Warum schaltet sich plötzlich der Autor ein und ist genauso schnell wieder verschwunden aus dem Geschehen? Man muss auf der Hut sein. Mit solchen Einbrüchen wird man beim Lesen weiter rechnen müssen, man wird davon ausgehen müssen, dass immer noch andere die Szene beobachten, auch wenn man sich völlig allein wähnt mit den Figuren des Romans. „Zwölf Ringe“ spielt in der Ukraine, in den 90er Jahren und früher. Und richtig, als Bewohner dieses Staates kann und konnte man davon ausgehen, dass immer noch andere einen beobachten oder beobachten, was man beobachtet. Und das sind eben auch nie auktoriale Erzähler, die über den Dingen schweben. Anders als eine der Hauptfiguren des Romans, die diesen nicht überleben wird und deshalb zum Schluss als körperlose Seele seinen Beobachterflug über Europa antreten kann.

 

Viele haben in Juri Andruchowytschs Buch etwas zu erzählen. Der österreichische Fotograf und Ukraine-Liebhaber Zumbrunnen, seine Dolmetscherin und Geliebte Roma, ein Clipproduzent und seine Crew und nicht zuletzt der Poet Artur Pepa. Insgesamt acht Helden sind in das „Wirtshaus auf dem Mond“ zu einem obskuren Kongress geladen. Hoch oben in den Karpaten tagen sie zu Ehren des ukrainischen Dichters Bohdan-Ihor Antonytsch (1909-1937). Mithilfe seiner Verse spinnen die Protagonisten des Romans ein Netz, um ihr Leben zu verstehen, ein Fangnetz aus Fiktion und Realität. „Es wird Zeit, Zumbrunnen zu wecken. Wir brauchen ihn, um das Innere des Gebäudes zu besichtigen ...“ Die Türschilder der Hotelräume zeugen von einer vielschichtigen Vergangenheit: „Prozeduren“, „Abteilung für Beschwerden und Bespitzelungen“, „Trauerzimmer“, auch die herumliegenden Gerätschaften erzählen von osteuropäischem Durcheinander. Nicht dramatisch, weil stets mit Schnaps begossen, wird ein Landstrich besichtigt – Galizien ein Märchenland, aus dem es Wunder spuckt und europäischen Geist mitten in tiefster Provinz.

 

Man sollte das hervorragende Nachwort der Übersetzerin Sabine Stöhr und die erhellenden Anmerkungen des Autors auf den letzten Seiten nicht zu spät einsehen, um die zahlreichen geschichtlichen und literarischen Anspielungen nicht zu verpassen. Verschlungen sind die 12 Ringe ineinander, die wie der Titel und das Motto auf ein Frühlingsgedicht des großen ukrainischen Dichters Antonytsch verweisen. Die Menschen träumen heftig, auch bei Tag, und leben wie wild, alles läuft ihnen durcheinander, die Erinnerungen mit den Sehnsüchten, die Geilheit mit anderen Methoden von Liebe. Der Autor liebt das Wasser wie alle seine Helden, und so rauscht man an den Episoden entlang, die sich von Fern wie schroffe gefährliche Klippen ausnehmen, aber schwindelnd schnell ist man nah und vorbei.

 

Ob sich die Verbindungen herstellen lassen zwischen den Episoden, liegt an der Kooperationsbereitschaft des Lesers, in diesem Buch wird einem nichts aufgedrängt, aber es ist gestopft voll mit Geschichten, die alle zur Geschichte von der Ukraine und zu dem Bild, was der Westen sich von ihr macht, gehören. Und Andruchowytsch ist so begierig zu erzählen, dass er sich vor lauter Ungeduld immer wieder einschaltet in den Roman und damit unzählige Episoden und Bezüge hineinreißt in den Text. Die Ukraine muss wunderschön sein.

 

Gustav Mechlenburg

 

Juri Andruchowytsch: Zwölf Ringe, Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr, Suhrkamp Verlag 2005, 307 Seiten

 

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