9. Juni 2005

Muttermörder wird frei

 

Gegen die Aufführung von Sartres „Bei geschlossenen Türen [Huis clos]“ im Mai 1944 in Paris gab es für die deutschen Besetzer nicht viel einzuwenden: metaphysisches Theater par excellence. Die Anderen als Hölle, das waren nicht nur die Deutschen, sondern prinzipiell alle, einschließlich Franzosen. Erstaunlicher also eher, dass es überhaupt unter den gegebenen Umständen aufgeführt wurde. Auch wenn es im mythologischen Gewand daher kommt, ist „Die Fliegen“ (Uraufführung 1943 in Paris) eindeutig ein politisches Stück. Hier geht es um Verbrechen, Usurpation, Knechtung des Volkes und die erfolgreiche Inszenierung von Verblendungszusammenhängen. Und über die Theaterschiene bekommt man bestätigt, dass das „Griechische“ und das „Deutsche“ mehr miteinander zu tun haben, als manchem recht ist.

 

Aber natürlich geht es Sartre nicht um dramaturgische Bestätigungen philosophisch-philologischer Zusammenhänge. Hier konnte jemand etwas riskieren und die Probe aufs Exempel machen, ob der Deutsche wirklich so tumb war, wie man ihn der historischen Lage nach einschätzen durfte, und er konnte zugleich zeigen, dass seine eigene Philosophie, die in dem 1943 erschienenen „Das Sein und das Nichts“ ihre Grundlegung erfahren hatte, sich sowohl mit antiken Mustern als auch mit aktuellen Stoffen reimen ließ. Sartre hat mit „Die Fliegen“ kein plumpes Agitationsstück geschrieben, seine Philosophie der Freiheit verpflichtet ihn auf individuelle Selbsterfahrung. Letztlich mögen sich also die Deutschen auf den Schlips getreten gefühlt haben durch die Engführung von Ägisth und Klytämnestra mit den Besetzern in Paris und dem Sozius in Vichy, aber man konnte argumentieren, dass doch einige Inszenierungen ins Land würden gehen müssen, damit auch nur ansatzweise einer ernstzunehmenden Anzahl von potentiellen Freiheitskämpfern das Licht der Freiheit hätten vorgeführt werden können. Und bestand das Land nicht sowieso schon unter der Hand aus lauter Résistancekämpfern, zu denen auch Sartre selbst gehörte?

 

Wem wollte man also überhaupt noch etwas von Freiheit erzählen müssen? Erkannte Sartre schon damals, dass der Begriff der Freiheit auf vielen ideologischen Partituren erklang oder dröhnte? Sorge, nicht vereinnahmt zu werden? Eine Revolution findet jedenfalls in diesem Stück nicht statt. Was die große Masse angeht, endet es noch nicht einmal skeptisch, sondern pessimistisch. Aber vielleicht liegt das doch auch ein wenig an dem Stoff, den Sartre wählte. Nicht jeder hat so einen prima Start wie Orest, der das Schicksal so interpretieren kann, dass es sich zu seinem individuellen Akt machen lässt. Rache, Lynchjustiz, Umgehen der bürgerlichen Gesetze, der existentialistisch verstandene Orest bleibt Trittbrettfahrer der antiken Mythologie. So schnell, wie Sartre sich das dachte, wird man die Vergangenheit nicht los. Außerdem ist es ziemlich schwer, anderen die Authentizität seiner Handlungen plausibel zu machen, Orest kann ein Lied davon singen, seine eigene Schwester Elektra wendet sich mit Grauen von ihm ab.

 

Nach  der Befreiung erwuchs Sartres Ich-Mythologie im eigenen Land eine neue Herausforderung. Nachdem der politische Druck entwichen war, hatte der Existentialismus seinen größten Gegner verloren und geriet in Gefahr, sich mit biedermeierlichen Mustern abzugeben. Vor einem solchen Verfall bewahrte die „Struktur“ mit ihren Austreibungen. Und Sartre wurde ja dann auch richtig politisch.

 

Dieter Wenk (06.05)

 

Jean-Paul Sartre, Die Fliegen, Rowohlt (Les mouches)