8. Juni 2005

Besuch bei Gilles de Rais

 

Tief unten, im ausgehenden Mittelalter, kämpfte ein wackerer, edler, reicher, einnehmender Ritter an der Seite Jeanne d’Arcs. Zwei Exzesse, die sich trafen, nachdem sie auseinander gegangen waren. Zwei Unmittelbarkeiten, die eine zu Gott, die andere nach unten, nach ganz tief unten, zum Teufel. Von dem der noch gute Gilles de Rais es wissen wollte. Erste historische Figur eines Décadent? So jedenfalls sieht es der Autor, der es natürlich wissen muss. Der aber auch vielleicht zu dicht dran ist. Denn ob Des Esseintes wirklich mit Rais verglichen werden kann, ist sehr fraglich. Die reine absolute Innerlichkeit, bis zum körperlichen Verfall getrieben, gegen ein Maximum an Besitzergreifenwollen, an Verfügbarkeit, an Privattheater mit realem Personal als Opferhort. Lasset die Kinder zu mir kommen. Das dauert dem Typen Gilles zu lange. Er holt sie sich. Eins nach dem anderen. Ein kleiner Nimmersatt. Er entkindet ganze Landstriche. Der böse. Quält Kinder. Martert sie, tötet sie. Und nur, um den blöden Beelzebub herauszufordern.

 

Was wollte er eigentlich wissen? Immerhin beruhigend, dass er nicht ganz just for fun zerstückelt hat. Henry ist erst in der Postmoderne möglich. Und natürlich geht es Huysmans auch nicht um die Darstellung bestialischer Szenen, sondern um – ja was denn eigentlich, um die Situation dessen, der mit einem Problem konfrontiert ist, das er nicht mehr so lösen kann wie ehemals, und zugleich um die Schilderung eines Umgangs mit eben diesem Problem, das die alten Formen nutzt, und in seiner abgespeckten Form doch irgendwie lächerlich wirkt, nämlich die geheime Institution der schwarzen Messe. Ein bisschen Gotteslästerung, ein bisschen Menschenvergottung, ein bisschen Bordellisierung der geweihten Stätte, und das war’s dann auch schon. Alle Kinder save and sound. Das war das. Daneben werden ein paar gelehrte Gespräche geführt mit dem Glöckner, der nicht ganz so finster ist wie der von Notre Dame, eher im Gegenteil, dann noch eine zwielichtige Gestalt, eine Frau, die den Erzähler anschreibt, sich entzieht, Kristallisationen in ihm auslöst, ihm den Weg weist zur schwarzen Messe, sodass alles doch ein wenig miteinander verbunden ist, auch wenn der Leser nicht wirklich einen Roman liest, sondern die Vorstufe eines möglichen Romans, der vielleicht die analogen Ausschweifungen eines Gilles de Rais im 20. Jahrhundert zum Gegenstand hätte.

 

Aber den gibt es dann ja ein paar Jahre später durchaus real, so was erfindet sich dann doch nicht so einfach, und wenn, dann eventuell als Sciencefiction. Für Gilles gibt es sogar ein Happyend. Er kehrt heim in den Schoß der Kirche, selbst die Angehörigen seiner jungen Opfer beklagen ihn – und verzeihen ihm. Und das schreibt ein Autor auf, der nicht lange danach, und schon einige Zeit unterschwellig davor, dieser Lösung entgegengeht. Die Kaskaden des 19. Jahrhunderts haben dann doch ein Ende. Noch einmal schließt sich der Kreis, der schon Risse trägt, mindestens.

 

Dieter Wenk (12.00)

 

Huysmans, Tief unten, Ditzingen 1994 (Là-bas, Paris 1978)