7. Juni 2005

Vorgelaufen

 

Wenn Martin Heidegger in „Sein und Zeit“ die Empfehlung abgibt, in den eigenen Tod „vorzulaufen“, um die eigene Eigentlichkeit zu erfahren, so ist nicht so recht klar, wann man mit Gewissheit sagen kann, dort angekommen zu sein, denn der wirkliche Tod ist damit nicht gemeint. Der Vorläufer bleibt im Modus des Sich-Vorstellens und die Sache doch reichlich abstrakt, was Heidegger ja vermeiden wollte. Zwölf Jahre nach der Veröffentlichung dieses Buchs haben viele Europäer und zahlreiche Nicht-Europäer die Gelegenheit bekommen, die gedankliche Übung in die Tat umzusetzen, als Soldat, Zivilist, Partisan, Widerstandskämpfer. Sartre als großer Freund der Kategorie des Authentischen in der Nachfolge Heideggers hat zu diesem Thema mehrere Theaterstücke geschrieben, „Tote ohne Begräbnis“ liegt diesbezüglich gewissermaßen ganz an der Front. Es ist ein Résistance-Stück zur Zeit der französischen Kollaboration Frankreichs (Vichy-Regime) mit Nazi-Deutschland, und es präsentiert eine Gruppe von französischen Widerstandskämpfern, die sich in der Hand der kollaborierenden Miliz befindet. Mit Handschellen versehen stecken sie auf dem Speicher eines Hauses und warten darauf, zunächst gefoltert und dann getötet zu werden. Keine großartigen Aussichten auf Freiheit.

 

Was tut man in einer solchen Situation? Schlafen, dösen, hin und her laufen, sprechen (aber wie: diskutieren, oder konversieren?). Man kann Bilanz ziehen und sich zum Beispiel ärgern, dass man für nichts und wieder nichts gefoltert wird, weil man schlicht und einfach nichts weiß, was man preisgeben könnte. Der sportliche Aspekt ist also gekappt. Die Lage ändert sich, als ein weiterer Résistancekämpfer, Jean, der sich aber als entfernter Dorfbewohner tarnt, auf den Speicher gebracht wird. Jean wird von der Miliz gesucht, und von einer Sekunde auf die nächste haben die Gefangenen etwas zu gewinnen oder zu verlieren. Hält man der Tortur stand? Wird man schreien und sich deshalb schämen? Gibt es eine Möglichkeit, sich vorher umzubringen? Was in einer solchen Situation gedacht werden kann, der Leser und Zuschauer des Stücks erfährt es hier. Plötzlich fällt den Gefangenen ein, dass unter ihnen fast noch ein Kind ist, der 15-jährige François, der von Anfang an ein bisschen nervös ist und mit dem ganzen nicht souverän umgehen kann. Man merkt, Existentialismus ist keine Kinderangelegenheit, 18 bzw. 21 Jahre sollte man schon sein, um entscheiden zu können, wenn auch andere Belange mit im Spiel sind. Die Konsequenz, die die Älteren ziehen, ist nur auf den ersten Blick barbarisch, sie ist konsequent: Der Junge wird erdrosselt, weil die Gefahr zu groß wäre, dass er Jean verrät (und zwar im doppelten Sinn, einmal, weil er der Folter nicht standhalten könnte, zum anderen, weil er sich vielleicht aufgrund von Demütigungen an einem der anderen rächen würde). Dieser Unsicherheitsfaktor muss also ausgelöscht werden.

 

Im weiteren Verlauf des Stücks gibt es noch mehr Gelegenheiten, aufgrund von Peripetien der Lage die Gefangenen zur je aktuellen existentiellen Selbstbestimmung zu bringen. Am Ende besteht sogar die Möglichkeit, die Kollaborateure zu foppen und ihr eigenes Leben zu retten. Aber schließlich kommt doch alles ganz anders und immerhin können die Gefangenen von sich sagen, dass sie den Benn’schen Imperativ mustergültig umgesetzt haben: Erkenne die Lage! Was aber die Lage dann mit einem macht, da steckt man nicht mehr drin. Aber genau diese Unmöglichkeit fordert Sartre. Wächter seiner selbst gegenüber den anderen. Deutungshoheit.

 

Dieter Wenk (06.05)

 

Jean-Paul Sartre, Tote ohne Begräbnis, Rowohlt (Morts sans sépulture, UA 1946)