5. Juni 2005

Die Schrift der Sucht – Fuzzy-Literatur

 

Kaum hat ein Wichtigtuer oder ein anerkannt Wichtiger ein Problem mit sich und kann dann irgendwann darüber sprechen und/oder schreiben, dann ist genau dieses Problem nicht nur sein Sonderproblem, sondern das Welt- z.B. -gesundheitsproblem Nr. 1, im Falle Burroughs’: seine Sucht. Das klingt aus Burroughs’ Mund und Feder fast ein bisschen rührend. Aber das gehört nun mal zu den unfreiwillig komischen Wechseln von Primärtext (Roman) zu Appendix (Nachwort des Autors). Knapp 50 Jahre nach der Weltdrogengefahr muss man natürlich an Aids denken. Aber was hat Aids mit einer aufgeladenen Sprache zu tun, die nicht selbst schon das Virus ist, für das etwa Laurie Anderson sie hält, sondern für die es eines speziellen Bestecks bedarf, das so dreckig sein kann wie Scheiße. Letztere kommt zwar haufenweise vor, doch bleibt der Autor davon unbefleckt. Erst im Nachwort kommt es zu Selbstbeschmutzungen. Sprich: zu Pädagogik. Zur psychosozialen Situierung. Zur Verurteilung.

 

Doch ohne Drogen kein Naked Lunch, keine halluzinogen gesponserte Sprache, die einem nicht so einfach über die Lippen kommt, und sei das Sprechen noch so automatisch, und seien die fetten Reben des Unbewussten auch noch so rebushaft strukturiert. Keine langen Sequenzen als spinnfeine Handlungsfäden werden ausgelegt und durchgezogen. Die grammatikalisch nach wie vor korrekt zugerüstete Sprache (dies die Gabe an die Literatur) bietet sich in ihren Bildern und Situationen, den Begegnungen und Dialogen als zerstückelter Körper, bei dem jedes Stück, jeder Abriss ein Einstich zeichnet. Signaturen wie in abgedrückte Spritzen eindringendes Blut. Blutgirlanden als Hinrichtungsszenen. Schweiß- und Spermagemische als pornografische Akte. Dazu latente Infiltrierungen literarischer Genres, die Haupt- und Staatsaktionen der 1950er Jahre im verbreiteten Gewand der Überwachung. Völlig losgelöste Wissenschaftler im Céline’schen Quadrat. Die zynische Genialität aus Armut, Ausgrenzung und fürchterlicher Rücksichtslosigkeit aus Rache. Oder dann subtil gearbeitete Bürokraten-Ärzte, die in Suggestion und Hypnose promoviert haben müssen. Feines Überführen und Eindringen – und dann das brutale Stigma. So sicher geführt wie die Nadel, die die Vene blind trifft. Und dann die sich mischenden Säfte – Weltinnenraum als verrücktes Kreuzworträtsel. Versatzstücke pornografischer Fantasie. Wahnopfer in ethnografischen Cliché-Überlagerungen. Dies ist kein Gedicht mit rhetorischer Rückübersetzungsmöglichkeit. Bloßer Zerfall in Worte. Die für nichts anderes stehen als einen hemmungslosen Genuss. Der ausgetrieben werden soll.

 

Aber das kann der Text selbst nicht mehr sagen. Der Nachwort-Anhang stellt den überfälligen, weil nicht mehr rückfälligen Beobachter heraus. Der die Wahrheit sagt. Der den Text durchstreicht. Und der ihn doch zu genau dem macht, was er geworden ist – Literatur.

 

Dieter Wenk (07.00)

 

William Burroughs, Naked Lunch, Rowohlt 1999 (Original 1959)