29. Mai 2005

Kino und Krieg

 

René und Florence – das klingt ein bisschen wie „Paul und Virginie“ – und das soll es wohl auch. Was diesen ihr Mauritius, ist jenen Mallorca: das Paradies. Zwei Kinder wachsen zusammen auf, ihrer beider Eltern kamen bei einem Verkehrsunglück ums Leben, ein Oheim und zwei Frauen kümmern sich um die beiden. Inseldasein in jeder Hinsicht, René und Florence sind wie Zwillinge, sie kapseln sich ab auf der Insel, errichten ein Reich, das sie im Traum zu erreichen versuchen, Begegnungen auf der anderen Seite der Wirklichkeit. Nebenbei lernen sie Latein.

 

Dann wird René nach Paris geschickt, er gerät in Bohemekreise, lernt Schauspieler und zwielichtige Gesellen kennen und darf dabei helfen, das kinematografische Medium bekannt zu machen. Wie ein oder zwei Jahrhunderte vor ihrer Zeit zieht die Abenteuertruppe mit den „Rossen des Thespiskarrens“ los, um Filme in Belgien und Holland zu drehen, zuerst in Brüssel, dann in Gent und Amsterdam. Die Filme sind nur wenige Minuten lang, das Drehbuch wird vor Ort erfunden, örtliche Gegebenheiten eingebunden, und nach drei, vier Tagen ist ein Film fertig. Dann schickt man ihn nach Paris zu Pathé, der die Rollen entwickelt und zusammensetzt, letztlich also auch die Regie über die Streifen hat, von denen die Schauspieler, Kameraleute und Regisseure vor Ort oft nicht wissen, wie sie montiert sind. Irgendwann fängt man an, sowohl zu drehen als auch Abends Filmvorführungen der nur wenige Tage oder Wochen alten Filme zu zeigen. Die kurzen Filmchen sind eingebunden in verschiedene Nummern, die die Schauspieler zum Besten geben. So könnte man sich weiter finanzieren, wenn es nicht so hirnlos wäre. Aber die Ideologie geht noch immer nach Theater, moralische Erhebung und Steigerung des ästhetischen Gefühls, deshalb soll auch Shakespeare verfilmt werden.

 

Doch dann ist Schluss, René hat mittlerweile seine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht (die brave Florence auf Mallorca natürlich nicht, sie affirmiert in schöner Resignation das so genannte Schicksal des weiblichen Wesens: „… denn das Leben der Frau ist Warten… sie würde eine Handarbeit in der Hand haben, das Symbol der weiblichen Passivität, während die Frau auf die Liebe wartet, auf das Kind wartet und schließlich auf die Einsamkeit und auf den Tod wartet.“), er glaubt, wieder etwas mehr Kontakt mit sich selbst nach so viel Illusionismus und Trugbild herstellen zu müssen, aber das ist gar nicht so leicht, wie sich zeigen wird. Immerhin nimmt er auch Teil an einem weiteren revolutionären Element des 20. Jahrhunderts, dem Automobil, dessen Vertreter in der Provinz er wird, Florence ist jetzt auch dabei, sie haben inzwischen geheiratet. Florence erfährt ihre eigentliche sexuelle Initiation in Toledo, der an vielen Stellen als tot bezeichneten Stadt, die körperliche Vereinigung wird absatzlos auf gut zehn Seiten beschrieben, und es ist ein schönes Mysterium (qua Schwulst), das der Leser via die beiden Liebhaber erfährt. Dann ist auch schon das vom Schicksal geforderte Kind da und man schmachtet ein wenig in der Provinz vor sich hin. Nach der Passion fängt die Gewöhnung an, die Lethargie, der Überdruss. Ein kecker Offizier bringt Wind in die Stube, etwas zu viel, René bricht überstürzt auf und verlässt seine Frau.

 

Dann geht der Erste Weltkrieg los, René kämpft als Soldat und darf an schönen Gesprächen über den Sinn und Zweck des Krieges partizipieren, ein Kombattant lässt René einmal wissen: „Der Krieg ist wie eine Säure, die das Bild auf der photographischen Platte entwickelt.“ Ähnliche Ätzungen findet man auch bei Ernst Jünger. Der Heroismus ist bei Brasillach jedoch nicht Selbstzweck, müde und vom Schicksal geschlagene Menschen versuchen den Krieg für sich zu instrumentalisieren, er ist ihre letzte Chance in einem verpfuschten Leben. René überlebt, wurstelt sich so durch, Florence zieht den gemeinsamen Sohn auf, der romantischerweise ein Mädchen kennen und lieben lernt, das sich später als die Tochter von René und Bessie, einer Theaterschauspielerin, mit der René eine Zeitlang zusammen war, zu erkennen gibt. 1926, nach vierzehn Jahren Trennung, treffen sich René und Florence wieder, unverhofft, und doch von beiden Seiten gewünscht. Ein weiterer Schicksalsschlag.

 

Der Erzähler erfährt das alles in Marokko, wo René als Pflanzer arbeiten wird, das Ende von René und Florence erfährt der Leser nicht. Ein Roman, der seine Geschlechterideologie zwar diskret, aber eben doch vorführt, die Reinheit der Frau, ihre Sozialädrigkeit (Florence’ Engagement für die Blinden, auch ein Selbstsymbol), der Dezisionismus des Mannes, der es verschmäht, die Sachen, die schief gelaufen sind, mal zu diskutieren. Man findet keine Gespräche zwischen René und Florence in diesem Buch. Dialoge bahnen keine Wege. Ewige Wahrheiten schlummern in den Bildern von Memling – Goya und El Greco dagegen haben keine Chance. Es herrscht ein Realismus, von dem man merkt, dass zwischen einer früheren Abart und ihm ein Symbolismus geherrscht haben muss, von dem sich manche Bilder inspirieren lassen. Ein Jude kommt auch einmal vor, Petrus Zelnick, der Operateur der kinematografischen Mannschaft, klein und schlau, langes schwarzes Haar, krumme Nase sowieso. Aber Brasillachs Antisemitismus ist wie der von Céline diskret, das Fehlen im Roman fast Programm. Wüsste man sonst nichts von ihm, würde man ihn als ephemeren Epigonen des 19. Jahrhunderts abtun und vergessen können. Kulturhistorisch interessieren die Episoden über die Anfänge des Kinos und über den Krieg.

Den Rest erdrückt die Patina der schicksalsschweren Ergebenheit.

 

Dieter Wenk

 

Robert Brasillach, Ein Leben lang, München 1938 (Comme le temps passe, Paris 1937)