27. Mai 2005

Zuckerwatten-Grass

 

Ein schönes Buch. Viele Schwarzweißfotos, am Schluss ein Flip-Book, dazu allerhand Layout-Spielereien, die das Herz eines jeden Bibliophilen höher schlagen lassen: Rot eingekringelte Wörter, sich verkürzende Zeilenabstände, die schließlich darin münden, dass man gar nichts mehr lesen kann, nur mit einem Satz beschriebene Seiten etc. pp.

Und die Handlung fängt auch schon mal recht viel versprechend an: Neunjähriger verliert Daddy am 11.09. im WTC, Neunjähriger wohnt mit Mom in New York und ist extrem altklug (Hobbys: Tamburin spielen, Stephen Hawking lesen, Französisch lernen, Lehrer mit schlauen Sprüchen nerven), Neunjähriger findet zufällig unter Daddys Unterlagen einen Schlüssel, auf dem ein Name steht, Neunjähriger macht sich in New York auf die Suche nach dem Besitzer des Schlüssels. So weit, so amüsant. Die Figur des „erwachsenen Kindes“ als Kunstfigur par excellence hat sich insbesondere in der US-amerikanischen Gegenwartskultur bewährt – siehe Wes Andersons wunderbaren Film „Rushmore“, Don DeLillos „White Noise“ oder auch David Foster Wallace’s „Infinite Jest“.

 

Aber Jonathan Safran Foer, seit seinem Sensationserfolg „Alles ist erleuchtet“ als Wunderkind gefeiert und damit vielleicht selber so etwas wie der große Bruder seines Protagonisten, belässt es nicht bei diesem Handlungsstrang: Der altkluge Neunjährige, der auf seiner Suche in New York allerhand kuriosen Gestalten begegnet, ist der Nachkomme deutscher Auswanderer. In einem Parallelplot wird die Geschichte seines Großvaters erzählt, der die Bombardierung Dresdens überlebte und an einer seltsamen Krankheit leidet, durch die er seine Stimme verliert. Seitdem kann er sich nur mehr durch geschriebene Nachrichten verständigen, die er auf Notizzettel schreibt. Schon vor langer Zeit, vor der Geburt seines Sohnes, hat der Großvater aber seine Frau verlassen.

 

Am Ende werden sich Enkel und Großvater dann am Grab des Vaters bzw. Sohnes zum ersten Mal begegnen, der Neunjährige wird auf dem Handy die letzte Nachricht abhören, die ihm sein Vater kurz vor dem Einsturz des WTC hinterlassen hat und sich in der Schlusspassage vorstellen, wie es wäre, wenn die Zeit rückwärts laufen würde. Das Flugzeug flöge nicht in, sondern aus den Türmen, sein Vater ginge nicht in die Arbeit, sondern stände noch einmal am Bett seines Sohnes und würde ihm eine Gutenachtgeschichte vorlesen; und schließlich: Sein Vater würde nicht aus dem Turm springen und in den Tod stürzen, sondern – einer Himmelfahrt gleich – aufwärts schweben und am Leben sein.

 

Die weit gefächerte Handlung lässt den künstlerischen Erfolg des Buches, wie auch sein Scheitern erahnen. Die Figur des Neunjährigen, der nicht umsonst Oskar Schell heißt und damit zum kleinen Bruder Oskar Matzeraths wird, ergreift und überzeugt in ihrer Ambivalenz – zum einen frühreif und großspurig, zum anderen zerbrechlich und unsicher. Dass Oskars Suche am Ende etwas viel Leerlauf beinhaltet – geschenkt. Das Buch ist aber keine Adoleszenzgeschichte, sondern ein Werk, das ganz gezielt so etwas wie die Verarbeitung eines geschichtlichen Ereignisses darstellt – darin Grass’ „Blechtrommel“ nicht unähnlich. Stellt sie nur die Frage: Um welches Ereignis geht es hier eigentlich? Um den 11.09.? Um Dresden? Um Hiroshima, von dem auch einmal, so ganz beiläufig, die Rede ist? Sollen hier Verbindungen gezogen werden? Geht es hier um „die geschichtliche Katastrophe“ per se?

So bleibt unklar, inwieweit es tatsächlich beabsichtigt ist, dass sich jede Zeile der Beschreibung der Bombardierung Dresdens (immerhin ein Ich-Bericht des Großvaters) enorm beliebig und, im Unterschied etwa zu Vonneguts „Slaughterhouse-Five“, wie angelesenes Wissen liest. Foer konzentriert sich hier nicht etwa auf die Erlebnisse im Luftschutzkeller, auf den Straßen o.ä. Stattdessen schildert er, so wie schon Murakami und Kusturica vor ihm, eine Szene von Tieren im Zoo während des Angriffs, die dann in ihrer Abgedroschenheit tatsächlich den Eindruck macht, als wäre sie 1:1 vom Fernsehschirm abgeschrieben worden. Und müssen sich die Figuren unentwegt sagen, wie gern sie sich haben und wie sehr sie die Toten vom 11.09. vermissen? Statt der beißenden Zeitdiagnose Grass’ bietet Foer nur Weichspüler.

 

Denn was – und diese Frage muss erlaubt sein – will dieses Buch eigentlich? Den 11.09. erfahrbar machen? Ist dies der Fall, dann wird das Trauma hier letztlich konsumierbar gemacht – Geschmacksrichtung: Zuckerwatte. Es ist ja sehr löblich, dass ein, was Stil und Plot angeht, zweifelsohne begnadeter Jungautor keine Angst vor großen Themen hat – anders als hierzulande, wo Liebeskummer kleiner Mädchen zum literarischen Ereignis stilisiert wird. Wenn eben jener Autor dann aber derart fahrlässig und unreflektiert mit seinen Themen umgeht, ist sein Scheitern umso schmerzlicher.

Am deutlichsten wird dies vielleicht im Layout des Buches: Der bloße gestalterische Erfindungsreichtum weckt auf den ersten Blick Neugier und macht Lust auf das Buch. Nur: Warum es all diesen ohne Frage schön anzusehenden Schnickschnack braucht, bleibt unklar. „Extremely loud & incredibly close!“ – Ein zwiespältiges Buch.

 

Thomas von Steinaecker

 

Jonathan Safran Foer: Extremely loud & incredibly close, 2005

 

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