23. Mai 2005

Die Innenseite der Oberfläche

 

Haut ab! Die Bestrafung des Betrachters ist ein wesentlicher Bestandteil der Avantgarde. Mehrfache Lesbarkeit auch. Haut ab, ist ein Imperativ, der bedeutet, dass man endlich verschwinden soll, oder der Befehl, die Haut nun abzuziehen. Außerdem ist Haut ab auch ein wenig wie Hut ab – pars pro toto kleine Verbeugung. Hut ab vor der zentralen Installation der Ausstellung „Die Innenseite der Oberfläche“, die auch mal „Haut ab“ heißen sollte.

 

Beide Titel umwerben Hüllenphänomene, und ein besonders eindrucksvolles bekommt man hier zu sehen. Ein verbarrikadiertes Schaufenster mit kreisförmig eingeschlagenem Loch, die Fensterscheibe ist noch heil.

 

Irgendetwas ist hier eingeschlagen und hat in Augenhöhe die Holzverschalung, das Fenster und die dahinter liegende Wand von außen nach innen durchquert.

 

Schaufenster sind Schussanlagen für Projektionen, Begehrlichkeiten, die sich durch die Scheiben bohren, zu irgendwelchen Sachen, die man unbedingt haben will, das jeweilige Konsum-Target, was verlockend aufgebaut ist. Eine Torwand, die der gesellschaftlichen Praxis folgend, aber nicht direkt beschossen wird, sondern von hinten gegen Geld ausgeräumt wird. Auch diesen Ausstellungsraum betritt man wie einen Laden durch die Tür. In gleicher Richtung, wie das Geschoss durch das Fenster drang.

 

Man tritt im Türsturz durch verschiedene Atmosphären hindurch, so wie in großen Kaufhäusern Heißluft in den Eingangsbereichen die Hemisphären ungefährer Bedürfnisse draußen und zugespitzter Absichten drinnen teilt. Bei Peter Lynen schreitet man an Löcherkäse-Tapete vorbei. (Legen Sie in der Mittagspause zur Beruhigung den Emmentaler von der Stulle auf den Scanner, das erhellt Lynens Methode). Diese Käselöcher, bei Gasentwicklung entstanden, nun zu Katakomben verfestigt, sind Verwandte des großen Lochs draußen am Fenster. Der Innenraum hinter der Käsepforte ist so voll gestopft wie eine Schweizer Privatsammlung. Ein hölzerner Fuß ragt skulptural in der Gegend herum, ein hölzerner Kühlschrank steht auf die Seite gelegt am Rand und beinhaltet ein Glas mit Marmelade, die sich unterm Deckel festgesogen hat. An der Wand hängt ein überdimensionaler Spiralblockzettel (identifizierbar an der charakteristischen Fetzkante), mindestens 2.50 hoch und 3 Meter breit, auf ihm gemalt eine kleine Tür. Der Block zu groß, die Tür zu klein, was soll nur daraus werden. Wie soll man seine Notizen nur jemals alle heil durch diese Türen bringen, wie kann man die begehrten Dinge, denen man gerade hier hereinfolgte nur aus diesen Läden herausbugsieren.

 

Das Projektil, welches von außen die Wand durchschlug, ragt silbern glänzend in den Raum. Um seine Schnauze ein Ring auf einen Dreifuß montiert. Die Dreyfus-Affaire, die Dolchstoßlegende. Dreyfus wurde in den 1890er Jahren Opfer antisemitischer Bezichtigung, es ging um den Verrat französischer Militär-Geheimnisse an Deutschland. Mit der Dolchstoßlegende verbreiteten deutsch-nationalistische Kreise eine bizarre Darstellung des deutschen Zusammenbruchs 1918.

 

Es handelt sich in beiden Fällen um angeblichen Verrat. Die Geschichtsklitterung der Kunst, der sich die ganze Bande Künstler in gerechter Verzweiflung und unsinniger Anschuldigung hingibt, wird hier in einer Fußnote bemerkt, moniert und abgestellt. Es ist ein Target, was bereits durchschlagen ist. Ein Teil der Dolchstoßlegende bildender Kunst ist die (von Christian Demand) behauptete Immunisierung des Betrachters, in Folge bedingungsloser Rezeptionsbereitschaft – mit solchen Betrachtern kann man keinen Skandal erzeugen. Man hat so schon verloren, bevor man überhaupt anfängt.

 

Das waren noch Zeiten, als Burroughs auf Bilder schoss, als währen es Scheiben. Die Ausstellung von Peter Lynen illustriert nebenbei den selbstzerstörerischen Masochismus, mit dem man sein eigenes Museum, durch akkurat auf die eigenen Werke abgestimmte Fluggeschütze bedroht. In Kratern, die man damit reißen kann, lässt sich weder feinsinnig aquarellieren noch sonst irgendeine Kulturtechnik ausüben. Es ist blanke Zerstörungswut. In der Inszenierung so eines brachialen Überfalls künden die kunstvoll abgerissenen Kanten und verwaschenen Farben der Sperrholzplatten allerdings von zarter Emphase mit silberner Spitze. Es ist das Bild der Bedrohung. Die mögliche Durchquerung von Wänden aller Materialien. Die denkbare und beispielhaft sichtbar gemachte Innenseite der kratzbürstigen Oberfläche.

 

Dass die Ausstellung „Innenseite der Oberfläche“ eine phallogozentrische Veranstaltung ist, muss eigentlich nicht weiter betont werden. Löcher gibt’s in großer Zahl, doch Schwanz und Kunst gibt’s nur im Singular.

 

Nora Sdun

 

Peter Lynen: Die Innenseite der Oberfläche

Ausstellung im Schaufenster, Hamburger Hochstraße 24, bis 8.6.05