23. Mai 2005

Antiidylle

 

Das Buch ist nicht frei von pathetischen Wallungen, aber diese stehen eingepfercht in ihre Bedingungen.

 

„Dumm! Saudumm! Immer kommst du ins Gedräng’, und nie hast du einen Zweck.“

Die 1927 erstmalig veröffentlichte Autobiografie von Oskar Maria Graf „Wir sind Gefangene“ beginnt ein paar Ständeetagen tiefer als Balzacs „comédie humaine“, immer im Gedränge verwirrter, wütender und verzweifelter Menschen.

 

Oskar Graf stammt aus der Ortschaft Berg am Starnberger See. Er ist das neunte von elf Kindern. Das wohlklingende Maria in der Mitte seines Namens verdankt er einem musikalischen Bekannten, der ihn damit von dem holprigen Pseudonym Oskar Graf Berg abhalten konnte.

 

Bis zu dem Zeitpunkt, da Graf vom Land nach München flüchtete, wurde er groß geprügelt von seinem Bruder Max, der nach dem Tod des Vaters, die Leitung der Familienbäckerei übernahm. Angst, Angst, Angst. Ich habe selten so scheußliche Kindheitserinnerungen gelesen wie die, deren Graf sich entsinnt. In einer Backstube im Bayrischen Land, Prügel, kein Schlaf, kein liebes Wort. Ein bohrendes Misstrauen und Grauen vor Menschen ist das Resultat solcher Erziehung. Graf weiß, was Zwang bedeutet. Graf hat aber keine Zeit, sich mit Anschuldigungen abzugeben. Denn er schildert ganz allgemein einen proletarischen Lebensanfang in Deutschland, Anfang des 20. Jahrhunderts, es kommt einem wie das Mittelalter vor. Es herrscht ein panisches Wortwörtlichnehmen, ein Missverstehen. „Alle hatten oft Gott geschluckt und sich nicht verändert.“ Es war alles Lüge. Nichts ändert sich nach der Kommunion. Eine wilde Hoffnungslosigkeit schüttelt das überarbeitete Kind.

 

Das Buch ist nicht frei von pathetischen Wallungen, aber diese stehen eingepfercht in ihre Bedingungen: Hirnverbranntheit, Rücksichtslosigkeit und Feigheit auch. Graf beforscht die Zeit zwischen 1905 im katholischen Bayern und dem Ende des Ersten Weltkriegs samt niedergeschlagener Münchener Räterepublik. Unangenehm aufrichtig schildert Graf, was er für ein Idiot war und wie viele Idioten anderer Couleur es gab und immer gibt. Oskar Maria Graf ist beißend ironisch, wenn er auf die Begeisterten zu sprechen kommt. Die Friedensbegeisterten, der zaghafte Beginn des organisierten Pazifismus. Die Körperbegeisterten, Monte Verita grüßt nackig. Die Revolutionsbegeisterten, zu denen er selbst auch zeitweilig gehörte, nur zu den Kriegsbegeisterten gehörte er nie. Und bitter, fatalistisch klingt es, wenn er die Reaktionäre schildert.

 

Selbstentlarvung, Befehlsverweigerung, Irrenanstalt im Brandenburgischen. Weniger kalkuliert, sondern aus Notwehr rebellisch, gelingt es dem jungen Mann, den Schützengräben des Ersten Weltkrieges zu entkommen, hinein in eine Irrenanstalt. (Hier kann man bei Célines „Reise ans Ende der Nacht“ die entsprechend gespiegelten Passagen auf der anderen Seite der Front nachlesen.)

 

Ein Einzelgänger im Getümmel. Graf weigert sich, den klassenbewussten Proletarier darzustellen. Er entlarvt sich selbst und nebenbei die Illusionen seiner Bekannten: Es gibt ihn gar nicht, den Guten, Selbstlosen, Klassenbewussten, Aufrichtigen, es gibt nur Isolierte, von denen einige besser zu ertragen sind als andere. Es gibt immer große Pläne und kleine Wirklichkeit. Unzuverlässig und tückisch wird der junge Graf, und das ist hart für den Leser, der natürlich Sympathien entwickelt für Gefangene. Aber so wird man gewahr, in was für bigotten Moral- und Verhaltensgefängnissen man selbst sitzt, in denen man alle Fluchtreflexe mit Nützlichkeitsüberlegungen niederdrückt und ein Held unbedingt auch moralisch sein muss oder das Gegenteil, aber nicht abwechselnd das eine und dann wieder das andere und auch noch unsicher. Graf beschreibt, besonders deutlich in seiner Münchener Zeit als erfolgloser Schriftsteller mit politisch erotisiertem Drall, wie alle Nützlichkeiten individuelles Glück herstellen sollen, das aber nur auf Kosten anderer zu haben ist. Die Selbstverwirklichung ist nur für skrupellose durchführbar.

 

Graf der, wegen seines polternden Stils und der Einfachheit halber gern in einer gemüthaften Schublade bayrisch wurschtiger Volksnähe untergebracht wird, hat sich vehement gegen diese Zuweisung gewehrt. Am 12. Mai 1933 schrieb er wutschäumend an die Adresse der bücherverbrennenden Nazis: „Verbrennt mich!“ Er hatte Erfolg. Die Nazis hatten Graf bis dato als volkstümliches deutsches Brah-brah-brah missverstanden, im Glauben, seine Texte seien national und ihrer braunen Ideologie konform. Ihnen war nicht aufgefallen, wie bitter ernst und gar nicht „tümlich“ Graf beobachtete. Seine Schilderungen dumpf brütenden Kadavergehorsams sind ohne Zierde und sehr bedrückend. Dass das Volk nicht „tümlich“ ist, wie Brecht versuchte zu erklären, wollte auch Graf beschreiben. Der elegant abstrahierende Stil der Intellektuellen Kollegen war seine Sache nicht. Er arbeitete mit einfacher Sprache, welche die Unbrauchbarkeit von Sprache generell entlarvt. Bei Saufgelagen plärrt es heraus: „Wir wollen uns mit Schnaps besaufen, wir wollen unsre Weiber tauschen, wir wollen uns mit Dreck beschmieren und überhaupt ein freies Leben führen.“ Mitten hinein ins Getümmel, in der die Sätze sinnlos werden und die Poeterei etwas für Leute ist, die nichts mitbekommen oder sternhagelvoll sind. Man will dringend etwas und steht allein in aufgebrachten Massen herum, wo es so idyllisch, wie man das in Heimatfilmen serviert bekommt, eben nicht zugeht.

 

Nora Sdun

 

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