16. Mai 2005

Zeichnen nach Auschwitz

 

Wer sich ernsthaft mit dem Holocaust und der Wissenschaft der rechteckigen Bildergeschichten beschäftigt, kommt an diesen beiden Comics nicht vorbei.

 

Wie vom Unberichtbaren berichten und sich das Unvorstellbare vorstellen? Diese Frage beschäftigte die meisten Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg und der „nationalsozialistischen Katastrophe“, die eine Tötungsmaschinerie in Gang setzte wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Selbst die Literatur, die älteste Dokumentationsform der menschlichen Schicksale und Tragödien und somit probates Mittel zur ernsthaften Auseinandersetzung, schien in dieser Situation ungenügend. Prägend geworden für diese Grundstimmung ist der Gedanke Adornos, dass es nach Auschwitz nur mehr schwerlich möglich sei, Gedichte zu schreiben – ein Gedanke, der freilich nach der Lektüre Paul Celans und anderer jüdischer Schriftsteller, darunter viele Überlebende und ihre Zeugnisse, zurückgenommen wurde. So entwickelte die Literatur langsam Ausdrucksformen und Erzählmechanismen und erweiterte stückweise die Grenzen des Darstellbaren.

 

Doch nicht nur in diesem Medium wurden Werke geschaffen, die den Nationalsozialismus, und den Holocaust im Besonderen, thematisieren. Früh setzten sich Comiczeichner, jenseits der zweckorientierten Propagandacomics der Kriegszeit, künstlerisch mit diesem schwierigen Thema auseinander. Und auch diese mussten sich erst Darstellungsmöglichkeiten erarbeiten und sich fragen, was passiert, wenn dem Leser die bildliche Komponente nicht vorenthalten wird, er seine Phantasie in dieser Hinsicht nicht anzustrengen braucht, da im Bilder geliefert werden? Dazu kommt das Problem, dass dem Comic mit seinen Sprechblasen und „Bildchen“ nur ein geringer künstlerischer Wert zugesprochen wird. Doch die Reaktion der so genannten neunten Kunst blieb nur eine Frage der Zeit und heute existiert eine zählbare, aber ausdrucksstarke Palette an Comics, die Außerordentliches zur Aufarbeitung und Archivierung der historischen Ereignisse geleistet haben.

 

Nach Bernard Krigsteins „Master Race“ (1955), Calvo&Dancettes „Die Bestie ist tot“ (1977) und „Maus“ (1989 und 1992) von Art Spiegelman liegen nun zwei weitere Comics in deutscher Übersetzung vor. Zwar weisen die beiden Publikationen entscheidende Unterschiede in Form und Inhalt auf, dennoch werden sie auch in Zukunft unzertrennlich miteinander verbunden sein, insofern ihnen die Zuweisung zum Holocaust-Diskurs im Comic jeweils schon im Titel bestimmt ist.

 

Der Titel des Comics „Auschwitz“ von Pascal Croci markiert bereits den zentralen Handlungsraum der Geschichte. In der Presseerklärung heißt es dazu: „Ausschwitz“ ist eine fiktive Erzählung von Pascal Croci, die sich auf die Erinnerungen von Zeitzeugen stützt. Im Ex-Jugoslawien von 1993 erinnert sich das jüdische Ehepaar Kazik und Cessia an ihre Deportation in das Vernichtungslager, die Zeit in Auschwitz und an den Tod ihrer Tochter. Damit ist im Wesentlichen auch schon das Konzept des Comics umschrieben, welches mühelos auf zahlreiche Vorgänger in Film und Literatur verweisen kann. Das achtseitige Interview mit dem Autor, das im Anschluss an den Comic folgt, ist insofern als Versuch der Legitimation unnötig, verweist jedoch auf die Problematik, die dieses Thema weiterhin in der Kunst und besonders im Comic besitzt.

 

Das Besondere – nicht das Novum, da Croci hier in Analogie zu Krigstein steht – steckt weniger in der Geschichte selbst, als viel mehr in den Zeichnungen. Die Zeichentechnik der ligne-claire, die von Spiegelman verwendet wird und fast als poetologische Prämisse für Holocaust-Comics denkbar wäre, wird nämlich von Colci negiert. Während Spiegelman seine Figuren und Orte bewusst abstrakt und schemenhaft behält, so liegt mit „Auschwitz“ geradezu der umgekehrte Fall vor. Während bei Spiegelman Mäuse, Katzen und Schweine bereits auf das Metaphorische des Comics verweisen, riskiert Colci mit seinem Realcomic von vorne herein viel, da zu befürchten ist, dass der Comic es nicht über die gezeichnete Dokumentationsarbeit hinausschafft.

 

So sieht sich der Leser auf Seite 58 am deutlichsten mit dem Dokumentarischen als Stilmittel und Erzählform konfrontiert. Eine Handvoll Fotos, scheinbar willkürlich ausgewählt und hingelegt, zeigen Alltagssituationen. Darunter, um den Eindruck zu verstärken, zeichnen sich mehrere beschriebene Blätter ab, die wohl auf jene schaurigen, jedoch bürokratisch korrekten, hochoffiziellen Schreiben verweisen sollen, die so viele Menschen zum Morden anspornten. Bei diesem Rückgriff auf echte Zeitdokumente bleibt es indes nicht. Hinzu kommen jene Bilder, die die Massenmedien geschaffen haben. So beginnt die Erinnerungssequenz des Ehepaares Kazik und Cessia an Auschwitz mit der Deportation im Zug – ein wichtiges Element im Holocaustdiskurs –, und der Betrachter, gleichsam aus der Perspektive der in den Waggons Eingesperrten, bekommt einen Jungen zu sehen, der mit dem Finger sensenartig am Hals vorbeisegelt. Dieselbe Einstellung findet man in Spielbergs Holocaust-Film „Schindlers Liste“ wieder. Und auch auf einen anderen Film-Klassiker wird verwiesen: Für den kulturell versierten Leser dürfte die frappierend Ähnlichkeit der Opfer- als auch Täter-Charaktere zu den Nosferatu-Figuren von Murnau oder Herzog schnell auffallen. Wem solche Reminiszenzen nicht ins Auge springen, der wird im dokumentarischen Teil, wo dem Leser weiteres Hintergrundwissen zur Verfügung gestellt wird, darauf aufmerksam gemacht.

 

Der zweite Comic lautet „Yossel: 19. April 1943“. Wie das Datum schon andeutet, spielt das Geschehen hier nicht in einem Konzentrationslager, sondern im Warschauer Ghetto. Am 19. April 1943 brach dort nämlich der Aufstand aus. Unter Mordechai Anielewicz, dem im Comic mit einer gleichnamigen Nebenfigur ein Denkmal gesetzt wird, begannen 600 Widerständler der jüdischen Kampforganisation ZOB gegen 2090 SS-Soldaten zu kämpfen, die das Ghetto endgültig auflösen wollten. In "Yossel" erzählt Joe Kubert die Geschehnisse im Warschauer Ghetto 1943 aus der Sicht eines 15-jährigen Jungen, welcher die Vertreibung seiner Familie aus dem eigenen Haus durch die Nazis miterlebt und schließlich, zusammen mit anderen Widerständlern, während des Aufstands ums Leben kommt.

 

Kuberts Comic weist ideologische Parallelen zu Alfred Anderschs Altersroman „Winterspelt“ auf. Zu Andersch heißt es, dass sein Kunstbegriff im Einklang mit Blochs „Pinzip Hoffnung“ steht, demnach die Wirklichkeit nicht nur abbilden und ausschmücken, sondern durch die Kunst auch praktisch verändern will. „Winterspelt“ gilt als ein gewaltiges Credo, in dem die Wirkungsgeschichte der Kunst gegen die Faktizität der Geschichte ausgelotet wird. Der Roman wurde daher als „Tagtraum der Weltverbesserung“ bezeichnet, der jedoch über den Zustand des Traumes sich nicht hinauszutreten wagt, da die historische Realität schlussendlich doch zu fordernd auftritt. So sind zum Ende von „Winterspelt“ alle vorher akribisch aufgebauten Fiktionalitäten zum Scheitern verurteilt. Ein glückliches Entkommen aus der Katastrophe gibt es nicht.

 

Identisch verhält es sich in „Yossel“. Kubert erkennt in dieser Ästhetik seinen Weg des Umgangs mit dem Holocaust, worauf schon im Vorwort verwiesen wird, wo im letzten Absatz zu lesen ist, dass sein Buch das Ergebnis seiner „Was wäre wenn“-Gedanken ist. Es sei ein Werk der Fiktion, heißt es weiter, basierend auf dem Albtraum der Fakten und es gäbe für ihn keinen Zweifel, dass das, was de Leser dann im folgenden zu lesen bekommt, hätte geschehen können.

 

Letztendlich trennt „Auschwitz“ und „Yossel“ mehr, als das, was sie verbindet. Croci setzt in seiner Publikation auf Intertextualität, also auf die Kenntnis der bekannten Holocaust-Bilder in Film und Foto, auf den Komplex Gegenwart-Vergangenheit und auf die Kombination von Comic, Interview und Dokumentation. „Auschwitz“ ist durch und durch konstruiert und man merkt die fünf Jahre, die Croci in diesen Comic investierte. Kubert hingegen geht intimer mit dem Medium um. „Yossel“ besitzt, vor allem in den Panels, in denen Kubert die eigene Familiengeschichte imaginiert, eine Aura des Intuitiven, so, als würden die Zeichnungen wirklich den Erinnerungen des Zeichners in jungen Jahren entspringen. Was diesen Comic außerdem auszeichnet, ist seine Metaebene, die Eigenschaft, nicht nur das Medium selbst permanent zu reflektieren und in den Mittelpunkt zu stellen, sondern auch die Autorschaft selbst.

 

Beide Comicbände, dies sei abschließend gesagt, lohnen die Lektüre, auch weil von jedem verkauften Band der beiden Titel ein Euro an ein Projekt zur finanziellen Unterstützung von Überlebenden des Holocaust in Osteuropa geht.

 

Doch nur einem, „Yossel“ von Joe Kubert, habe ich einen bleibenden Platz in meinem Bücherregal eingeräumt, da mit diesem Comic viel gewagt wurde – nicht nur inhaltlich, sondern auch vom formellen und selbstreflexiven Standpunkt aus betrachtet. Dieses Wagnis hinterlässt einen bleibenden Eindruck und entgegnet damit der drohenden Gefahr eines Überschreitens des Holocaust in den Alltag und die Routine. Denn die Wiederholung der immergleichen Motive und Beschreibungen in TV, Zeitung und Sachbüchern kann leider zur Folge haben, den Betrachter irgendwann zu ermüden – und ihn im schlimmsten Fall an die Bilder der menschlichen Katastrophe „Holocaust“ zu gewöhnen.

 

Filipe Tavares

 

 

Pascal Croci: Auschwitz, Ehapa 2005, Grafische Erzählung von Pascal Croci, mit Hintergrundinformationen und Glossar, 88 Seiten, Hardcover, 19,5 x 25 cm amazon

 

Joe Kubert: Yossel – 19. April 1943, Ehapa 2005, Eine Geschichte über den Warschauer Aufstand. Grafische Erzählung von Joe Kubert, 128 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 17 x 26 cm amazon