23. April 2005

Alles im Croissant

 

Man hat sich immer noch nicht daran gewöhnt. Das Ohr evoluiert langsamer als das Auge. Insofern ist dem klassischen Konzertbetrieb nach wie vor ein sadistisches Element inhärent. Andere nennen es Didaktik oder V-Effekt oder Aufbrechen tradierter Hörstrukturen. Der Komponist Paul Cédrat hat in diesem schmalen Roman die zweifelhafte Ehre, sein neuestes Werk, ein Streichquartett, zwischen Haydn und Beethoven eingebettet, zur Uraufführung zu bringen. Das Stück fällt durch, der anwesende Cédrat flieht. Zu düster die Musik, zu wenig Abwechslung. Auf dem Weg zu seinem Zimmer im Hotel stößt er auf eine Frau, die ihn anzieht. Ihre Augen sind blutunterlaufen. Er sagt ihr, falls sie Hilfe braucht… Braucht sie aber nicht. Die letzte Liebe war das nicht.

 

Auch Cédrat braucht keine Hilfe mehr. Keine kleinen Aufmunterungen. Er wird sehr bald sterben. Vom Hotel aus ruft er seine Frau Lucie an, dass er nicht möchte, dass sie in ihrem gemeinsamen Haus, einer Villa am Atlantik, sei, wenn er nach Hause kommt, um zu sterben. Als er ankommt, ist seine Frau schon in Paris. Auch ein vielleicht letzter Gang ans Meer lockt dem Moribunden keinen Tropfen Wehmut aus der Seele. Einen Todkranken stellt man sich irgendwie anders vor. Ein paar synkopische Anfälle, eine forcierte Magerkeit, aber ansonsten steht ihm der Tod ganz gut. Natürlich bevölkern auch noch andere Leute den Strand. Eine Frau schwimmt ausgiebig und vermisst an ihrem Platz ihren Bademantel. Eine andere Frau beschreibt ihr den „Dieb“. Wie der geneigte Leser vielleicht schon ahnt, kann diesen Bubenstreich eigentlich nur unser Komponist gemacht haben. Die Bestohlene, auch noch eine Seelenverwandte, eine Sängerin, sucht den Dieb auf und möchte ihren Bademantel zurück. Der ist erst mal froh, dass es mit der Lockung geklappt hat. Denn die Frau gefällt ihm sehr gut. Die Frau findet Paul umgekehrt auch nicht unsympathisch. Dann geht sie mit ihrem Hab und Gut, steht aber am nächsten Morgen schon wieder vor der Tür. Betrachtet den noch Schlafenden. Auch jetzt gehen von dem Todgeweihten nur liebliche Reize aus. Dann fragt sie ihn, ob sie etwas für ihn tun könne. Er möchte noch mal Auto fahren. Paul hat Glück, die Schwimmerin besitzt ein offenes Cabrio. Nur muss sie noch mal kurz nach Hause, um ihrem Mann Bescheid zu sagen, dass sie gerade noch eine letzte Pflicht für einen Mitmenschen zu erfüllen habe. Das wird er bestimmt verstehen. Dann bittet sie ihn auch noch an den Frühstückstisch (zweites Frühstück). Der Gatte ist nicht schockiert, nicht begeistert, er wahrt Contenance.

 

Dann ist Paul plötzlich nur noch scharf auf ein Stück Croissant. Ein eigenartiger Hamsun’scher Hunger entfaltet sich. Als Paul ein Stück davon isst, bricht er zusammen. Der Gatte ist jetzt wirklich sauer. Aber gemeinsam bringt das Paar, er ist auch noch Sänger, den schlaffen Paul in sein Haus. Legt ihn aufs Sofa. Bringt ihm ein Ständchen. Vielleicht sein letztes. Mittlerweile ist auch Pauls Frau wieder im Spiel. Ihr einmaliger Anruf in der Villa blieb unbeantwortet (hätte er nicht einfach auf dem Klo sein können?), da macht sie sich Sorgen oder will letzte Gewissheit. Dann ist sie auch schon aus Paris zurück, geht auf die Villa zu, deren Tür offen steht, liebliche Klänge klingen, und sie ist ganz froh, dass er noch am Leben ist. An dieser Stelle weiß der Leser natürlich etwas mehr als Pauls Frau, aber dann ist das Buch auch schon zu Ende, und es wird sicherlich genauso viele Interpretationen des Endes geben, wie es Leser des Buchs gibt. Und dann gibt es auch noch ein anderes Buch, das heißt „Erste Liebe“, Autor: Samuel Beckett.

 

Dieter Wenk (04.05)

 

Christian Gailly, Letzte Liebe, Berlin 2005, (Dernier amour, Paris 2004)

 

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