22. April 2005

Super! Ja, Nej

 

Wenn man Bücher wie diese liest (wie diese?, ha) und im näheren zeitlichen Umfeld mit minimalistischen Strömungen welcher Art auch immer konfrontiert wird, ist es mehr als wahrscheinlich, dass man ein nervöses Zucken im Gesamtkörperglied verspürt, das man als verlegenes Symptom dafür interpretieren mag, sich jemals dem ABC der Dreiton- (Punk), dem Holpersound der Phasen- (Reich und Co.), den Schlagzeugdrippings der Drum-’n’-Bass-Musik, den Verschiebebahnhöfen des Nouveau-Roman, dem Sozial-Trivial von Fassbinder-Filmen, den Jutetaschen der Arte Povera ausgesetzt zu haben, wo man doch genau weiß, dass das wirkliche Glück nur im noch nicht einmal wohltemperierten Luxus zu finden ist.

 

Hat man jemals schon ein dermaßen präzises Intro gelesen? Anders gefragt: Wann hat man sich das letzte Mal mit so viel Freude vom Autor auf Seite XY wieder an den Anfang schicken lassen, um noch einmal von vorne anzufangen, weil man zu schnell oder weil es einfach zu schön war? Gehe zurück auf null. Du musst, nein, du darfst jetzt immer Frank Schulz lesen. Was sind das für Leute, die da in einer Dreierkolonne durch den Elbtunnel bei Hamburg fahren. Was für eine menschliche Seltsamkeit haben sie vor zu… ja was eigentlich? Zu retten? Zu vermöbeln? Welche kuriose Mischung aus pubertären Suchspielen, Jim-Jarmusch-Lakonien, idyllischen Reiseodysseen zieht am neugierigen Leserauge vorbei? Nach 100 von 750 Seiten weiß man es nicht und man will es auch noch gar nicht wissen. Was es mit diesem Bodo Merton genannt Mufti auf sich hat. Was er da vor diesem Wald genannt Kaff mit Badehose, Motorradhelm und Schäferhund treibt. Das wird er einem im zweiten Teil, den Journalen, schon selber erzählen.

 

Sein Doppelleben zwischen (meist abwesender) Ehefrau und quasi Dauerpräsenz zeigender Liebschaft (der sagenumwobenen Bärbel Befeld, genannt Bülbül), seine aberwitzigen Relationen zum Werbeblättchen „Elbe Echo“, seinem zeitweiligen Auftraggeber mit einer vermutlich gar nicht mal so untypischen Belegschaft, der man aber dann doch erst einmal das Wort und den Witz reichen muss, damit die ganze Mannschaft samt Frauen zum Leben erwacht; seine sinistren Erfahrungen mit dem Gros von Bülbüls verwandtschaftlichem Anhang gelegentlich einer Feier zu Ehren des Großvaters, die bei allen Lachsalven, die diese Schilderungen auslösen, mit zum Deprimierendsten gehören, was man bislang der Dumpfbackenheit des menschlichen Geschlechts leider zu Recht nachgesagt hat. Hier merkt man schmerzlich, dass der Titel des Fortschritts ein sehr limitiertes Feld begrenzt, ein Feld zumal, das im so genannten wirklichen Leben auch gar nicht vorkommt und eigentlich nur für Elaborate zu reservieren ist, die das dauernde Zurückschreiten, das quälende Auf-der-Stelle-Gehen in eine originale Form überführen. Wie Morbus fonticuli ein Kunstwort, so ist das Buch selbst ein wunderbar abgefahrenes Kunstwerk im alten und echten Sinn, radikal all das aufsammelnd und enzyklopädisch benennend und zusammenstellend, dass einem bei all dieser leidenschaftlichen Verlupung des Schreiben/Lesens Hören und Sehen vergeht.

 

Das Buch spricht von einer Selbstentführung. Und genau das will man doch am Ende auch die ganze Zeit mit sich selbst machen. Und man schafft es nicht. Und so möchte man beinah mit Peter Handkes Kaspar sagen, dass man gerne ein solcher werden wolle, wie einmal ein Bodo Merton einer gewesen ist.

 

Dieter Wenk (04.05)

 

Frank Schulz, Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien. Hagener Trilogie II, Frankfurt 2003 (Gerd Haffmanns bei Zweitausendeins)

 

amazon