20. April 2005

Für Verhaltensgestörte

 

Historizität und Pop sind eine seltsames Paar: Spinnefeind und dabei eng umschlungen. Da treibt der Pop unablässig hungrig weiter, verleibt sich hier ein Stück Avantgarde ein, schlingt dort ein Stück Subkultur hinunter und behält bei allem Stürmen auf den zukünftigen Moment doch die Vergangenheit fest im Blick. Bis alles mündet in einem zeit- und nicht selten richtungslosen Schwappen zwischen Revolution und Besitzstandswahren.

Wo die Welten sich reiben, da ist die Forschung nicht weit. Hier vertreten von einem dokumentarischen Eiferer erster Güte. Joachim Gaertner hat sich in den vergangenen zweieinhalb Jahren die Nächte um die Ohre geschlagen, um ein umfassendes Kompendium über die Veröffentlichungen vergessener INDIE-Label von den späten 70ern bis heute zu erstellen. Will sagen: 282 A4-Seiten nichts als Band- und Plattennamen, Jahreszahlen und Katalognummern, alphabetisch sortiert nach Plattenlabel.

 

Da werden sich linientreue Popisten natürlich die Haare raufen. „Ja ist dem Mann denn noch zu helfen? Wen interessieren denn die ollen Vinyl-Kamellen von Vorvorgestern, wo jeden Tag so viele tolle neue Platten erscheinen, die so viel näher am Klang gewordenen „Jetzt“-Puls liegen, dem Pop schon immer nachspürte?“ Ein Ansatz, der – und da kommen wir jetzt zur Schizophrenie – all jene Musikhörer übersieht, die sich bequem eingerichtet haben im Zelebrieren des „Jetzt“ von gestern, vulgo: die Plattensammler. Die sind womöglich weit weniger an famosen Neuerscheinungen interessiert als vielmehr daran, was eigentlich 1978 die fünfte Veröffentlichung auf dem kleinen Refill Records Label war (die Desperate Bicycles unter anderem Namen, nicht wirklich gut), oder ob (und wenn ja wann) die Firma Sing, Eunuchs! Sing die „You And What Army?“-Compilation-Cassette veröffentlicht hat (weil da ein großartiges frühes „Mountain Goats“-Stück drauf ist), oder ob Finnlands Ikbals Records Anfang der 80er womöglich außer den Terveet Kädet noch anderes veröffentlichten (ja, u.a. zwei großartige Singles von Aavikon Kone Ja Moottori).

 

All diese Fragen beantwortet „Could Have Been Bigger Than EMI“ mit ein wenig Blättern. Was eigentlich schon wieder schade ist, denn mit das Tollste am Plattensammeln war ja immer, dass man mit Wissen prahlen konnte, das gesellschaftlich so vollständig entwertet ist, dass man nie als Besserwisser erschien. Höchstens als verhaltensgestört, aber das ist ja eher schon wieder ein Kompliment.

 

Gregor Kessler

 

Joachim Gaertner: They Could Have Been Bigger Than EMI, A Discography of now defunct independent record labels that released vinyl (Pure Pop For Now People, PPFNO 001)

 

www.get-happy-records.com/labels-discography.htm