20. April 2005

Gallensteine – Herzsteine

 

„Er wollte ein Vaterunser beten, konnte sich aber nur auf das große Einmaleins besinnen.“

 

Schlimm. Bei Andersens „Schneekönigin“ wird später alles wieder gut. Die Tränen eines kleinen Mädchens tauen das Eis in der Brust des kleinen Kai. Ob das vorstellbar ist und Sinn macht, wird später in einem Essay beantwortet. Erst mal liest man Märchen. Seltsam verschrobene Erzählungen. Jede mit einer eigenen, ganz speziellen Folgerichtigkeit ausgestattet. Zusammengesammelt wurden die Texte von Manfred Frank, um dem romantischen Problem der Herzvereisung und Versteinerung auf die Spur zu kommen. Nach den traumhaft gleitenden Geisterfahrten in den romantischen Texten knirscht man zu Beginn des Essays böse ausgebremst im Kies der Germanistik, nach einer Weile gewöhnt man sich daran, und dann wird es sehr interessant.

 

Es handelt sich in den Herztexten der Romantik um ökonomische Konstellationen. Das Herz, die Fähigkeit zu weinen, Gefühle und so Kram, wird abgegeben, und im Tausch bekommt man Geld und Macht. Das Herz verwandelt sich dann in einen Stein oder in Eis oder etwas ähnlich Hartes. Die Verhärtung veranschaulicht den Prozess geldwirtschaftlichen Handelns. Ein weiches Ding wie das Herz mit völlig unklarem und verborgenem Wert wird in Münzen aufgerechnet zum Tauschwert. Endlich hält man ein sinnlich übersinnliches Ding, wie es bei Marx über das Geld heißt, in der Hand. Begreifbar, glänzend und nützlich. Nur ein einziger Katalysator ist nötig, um so einen Tausch in Gang zu bringen, man muss die Liebe des warmen Herzens verfluchen können.

 

Die Romantiker hatten es leider nicht so mit der Kapitalismuskritik. Obwohl sie sich sehr nah heranarbeiteten an Fantasien absoluter Herrschaft. Macht als Gegenwert für die Verfluchung des warmen Herzens. Umwandlung des Naturgoldes, im Innern der Erde und im Innern der Herzen, in Münzen. So dicht entlanggedacht an den Zusammenhang von Gewalt an der Natur und der Ausbeutung von Menschen, die das Zirkulieren der Waren erst ermöglicht, sind die Überlegungen der Romantiker aber überhaupt nicht konkret revolutionär, zukünftig, sondern trauernd romantisch und auf eine verlorene Unschuld zurückblickend.

 

Glanz ist ihr Fantasieerreger. Die Autoren sind mit einem Problem befasst, was nicht sozialökonomischer, sondern spezifisch künstlerischer Natur ist. Die Autoren wollen ja selbst mit der Kunst ihrer Endlichkeit einen unendlichen, glänzenden Schein geben. Eine gefährliche Sache, wenn man sich vom dem Ehrgeiz anfressen lässt, Bedeutungen zu ihrem gültigen, versteinerten Wort zu verhelfen.

 

So ein Pakt mit einem Berg-, Teufel- oder Steinwesen verspricht genau diese Überwindung der Sterblichkeit in Richtung Ewigkeit. Logo, ein Stein als Herz kompostiert nicht nach 80 Jahren. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Ware, Geld und Worten. Arbeit und Preis, Metall und Wert, Ausdruck und Sinn repräsentieren jeweils ein sinnlich fassbares und ein nicht-sinnliches Element. Paarweise zusammen ergeben sie die Ware, das Geld und das Wort. Symbol und Symbolisiertes arbeiten schon seit Jahrtausenden zusammen. Neu für die Romantiker ist, dass Symbol und Symbolisiertes die Rollen tauschen. Es kommt zu einer Fetischisierung der poetischen Symbolverwendung. Genauso wie mit der Zeit der Romantik die Gier nach Geld endgültig zu einem Gottesdienst der bürgerlichen Gesellschaft wurde.

 

Auf der künstlerischen Inspiration der Moderne lastet von da an die Hypothek einer inhumanen, Leben verneinenden, aber geldgeilen Gesellschaft. Unmenschliche Schönheit, Seelenfrost-Wetter, azurene Kälte, Maß, Regel, reine klare Form werden lauter erstrebenswerte, vergözte Aspekte von Literatur. Erkältung, Entfremdung also ist der Weg zur ewigen Kunst. Aber gefährlich ist es, da man als Versteinter nicht mehr weiß, was Menschen rührt, und das ist wichtig zu wissen für Autoren. Natürlich lässt sich eine Vereisung auch wieder rückgängig machen, und zwar mit Gottes Gnade. Allerdings ist die Lösung der Vereisung selten die interessante Passage des Textes, das Glücks- und Gnadengeschwafel ist nur das Happy End, und Romantiker sind in diesem Punkt nur lässige Didaktiker. Eine Formulierung wie, so lebten sie glücklich und zufrieden, ist wohl der faulste Ausgang aller Zeiten. Interessant ist, für die Autoren und für den Leser, wie man in die Verblendungszusammenhänge hineingerät und sich nicht mehr von ihnen befreien kann.

 

„Der Runenberg“ von Tieck erzählt von einem wandernden jungen Mann (es sind in den Texten der Romantik übrigens meistens junge Männer), der an eben diesem Runenberg vorbeikommt und in voyeuristischer Weise einer fabelhaften großen Bergfrau im Felsen ansichtig wird, wie einem riesigen Edelstein des Gebirges, und ihr darauf angetraut ist, ohne es zu wissen. Aber er ist ein für alle Mal magnetisiert von der Macht der ewig aufgerichteten Größe des Runenberges und der unverweslichen Macht der Gesteine, also dem potenziellen Geldwert der Gebirge. Hier gibt es kein Happy End. Die Angehörigen jaulen im Hintergrund von der fatalen Situation, in der ein Mensch, der keine Pflanze mehr lieb hat, auch kein Mensch mehr ist.

 

In den Variationen von Hoffmann, Wagner, von Arnim und Schubert zum „Bergwerk zu Falun“ gibt es ein makabres Ende, wenn das uralte Mütterchen, was einmal im Jahr an den Schacht kommt, in dem ihr Bräutigam vor Jahrzehnten verschüttet wurde, den unversehrten Körper des Jünglings ans Tageslicht befördert sieht, über ihm zusammenbricht, stirbt, und der Leichnam des Jünglings an der Luft zu Staub zerfällt. Hier löst die liebe Luft und die Liebe der treu Verlobten den Ewigkeitsanspruch, mit dem das Gebirge den Körper bewahrte. Wichtig bei der Falun-Geschichte ist, wie Frank ausführt, dass ein Seemann, gleichzusetzen mit den international zirkulierenden Waren, zum Gewerbe des Bergmannes wechselt. Zu der unterirdischen Tätigkeit, die dem Handel erst ihre Metalle, also Münzen, an den Tag schürft. Er wird von einer wilden Liebe zu diesen Ursprüngen immer weiter hinabgezogen in das Gestein, bis es über ihm zusammenkracht. Was ihm nur recht sein kann. Vom vergänglichen Tand, den man mit lächerlichen Münzen erwirbt, mit stetig welkenden Gliedern empfindet, hält er nichts. Er will die Ewigkeit im Leben, aber das wird nichts.

 

Die Schneekönigin hat eine Aufgabe gestellt, Kai soll das Wort Ewigkeit aus regelmäßig geformten Eisschollen legen. Wenn ihm das gelingt, bekommt er die ganze Welt und ein paar Schlittschuhe zum Geschenk. Solange er in der Gefangenschaft seines ewig kalten Herzens ist, gelingt es ihm nicht. Mithilfe seiner Freundin, die sein Herz taut und warm macht, ist es möglich. Ewigkeit ist also nur zu schreiben für zeitlich Gebundene. Ewiges ist, wenn man Teil davon ist, nicht zu fassen und total uninteressant. Verlockend ist es nur für die Menschen. Kai wird von der kalten Königin sozusagen mitgeschnackt, wie ihm auch ein Körnchen des in 1000 Stücke zerbrochenen und alles Gute verzerrenden Teufelsspiegels ins Auge fällt, da kann er nichts dafür. Die meisten Protagonisten, können nichts für ihre Verblendung, nur der Kohlen-Munk Peter aus Hauffs „Das kalte Herz“ ist gar zu geldgierig und „Ethan Brand“ von Nathaniel Hawthorne hat sich wirklich eine lästerliche Preisfrage gestellt: Welches ist die unvergebbare Sünde? Herr Hawthorne sagt es uns nicht, aber Ethan sieht wirklich schlecht aus und verbrennt sich schließlich selbst zu Kalk, als sei er zu Lebzeiten ganz aus Marmor gewesen.

 

Eine weitere Geschichte von Hawthorne gedeiht in einem teuflischen Garten. Ein traumschönes Mädchen ist durch Zucht und täglichen Umgang mit Giftpflanzen selbst so giftig, dass eine Gegenarznei aus dem Besten, was Gottes liebe Natur hergibt, zu ihrer Vernichtung führt. Man muss sich das vorstellen wie die Sache mit der Antimaterie, die, wenn sie auf eine gleich geartete Materie stieße, als Ergebnis nichts brächte, also nichts von beidem übrig wäre.

 

Eine Geister-„Frau ohne Schatten“ von Hugo von Hofmannsthal will einen Schatten haben. Und obwohl die anderen Geister dagegen sind, ist sie doch ihre Herrscherin, und sie müssen ihr helfen. Aber die Dame ist bereits völlig angefressen von allzu menschlichen Moralvorstellungen. Als sie betroffen feststellt, dass sie einem Menschen den Schatten rauben muss, um an einen eigenen Schatten zu kommen, sagt sie: Ich habe mich vergangen. Sie meint es in übertragenem Sinne. Ein spitzfindiger Geist erwidert mit dem buchstäblichen Sinn: „Das muss jeder sagen, der einen Fuß vor den anderen setzt, darum gehen wir Geister mit geschlossenen Füßen.“ Eine der besten Passagen! Bewegung wird Moral. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit gleitet hinüber, in die Ebene der Fantasie, wo sie ihre Rechtfertigung erhält. Ein Verblendungszustand, der auch dem Jüngling in dem grausigen Nachtstück „Der Sandmann“ von ETA Hoffmann zum Verhängnis wird. Er verliebt sich in einen Automaten. Damit genügt er der Definition des Romantischen zu 100 Prozent: Der Schöpfer (auch der Poet) überwältigt sein wirkliches Erleben durch poetische Einbildung. Und als Leser kann man wieder einmal feststellen, wie disharmonisch sich Einbildungskraft und Verstand zueinander verhalten – großartig!

 

Nora Sdun

 

Hg. Manfred Frank: Das kalte Herz, Texte der Romantik, Insel Taschenbuch, 270 Seiten, 2005

 

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