20. April 2005

Zärtlicher Hasser

 

Jetzt. Unmittelbar. Es ist, als sitze er direkt neben einem im Zimmer. Vor allem, wenn er schimpft. Und er schimpft viel. Über das Scheißköln, die Kritiker, die die Strichjungen der Literatur seien, und die Literaten, die sich in die Nutten der Massenmedien verwandelt haben, den Krieg, der nach 1945 noch weitergehe, im Scheißstaat BRD, dieses „riesige Konzentrationslager der Arbeit“. Er sitzt direkt im Zimmer, wenn er „Soft Machine“ auflegt und mitsingt; wenn er auf der Straße Passanten nach ihrem letzten sexuellen Erlebnis befragt; wenn er sich mit seiner Frau Maleen über Kindheitserinnerungen, seinen Werdegang und ihre unerträgliche finanzielle Situation unterhält; wenn er spontan einen Text improvisiert; wenn er flüstert, grummelt, brüllt. Dazu seine Stimme mit seinem leichten Zungenschlag und dem rheinischen Akzent, sein sonorer Bass.

 

Brinkmann, der Vater der deutschen Popliteratur. Brinkmann, der Herausgeber der legendären Anthologie „Acid“. Brinkmann, der Dichter. Brinkmann, der viel zu früh Verstorbene. Brinkmann, der Mythos. Und jetzt also: Brinkmann, der Hörspielpionier.

 

Was der Leiter der Hörspielredaktion des BR, Herbert Kapfer, da nach achtjährigen zähen Verhandlungen mit der Witwe Rolf Dieter Brinkmanns zutage befördert hat, ist, um es gleich vorweg zu sagen, eine Sensation. 385 Minuten Rolf Dieter Brinkmann, Winter 1973, ungeschnitten, auf fünf CDs unter dem Titel „Wörter Sex Schnitt“ bei intermedium records erschienen. Damals hatte der WDR Brinkmann ein Aufnahmegerät geliehen, mit der Bitte, doch eine Folge für die Reihe „Autorenalltag“ zu produzieren. Am Ende waren es elf Stunden, die Brinkmann da zwei Jahre vor seinem tödlichen Unfall aufgenommen hatte und die, ungesendet, über Jahrzehnte in Pappkartons in der Wohnung seiner Frau lagerten. Man muss kein Brinkmann-Fan sein, um von der Intensität, die von diesen Tonbändern ausgeht, in den Bann gezogen zu werden. Hier gibt sich ein Mann vollkommen preis. Autobiografie radikal. Brinkmanns späte Materialbände aus den 70ern, „Rom, Blicke“, „Erkundungen“ und „Schnitte“, stellen in ihrem Collagecharakter noch Kunstwerke dar, die sich selber innerhalb einer gewissen avantgardistischen Tradition sehen. Hier aber, durch das Medium selbst, das den Hörer direkt in das Arbeitszimmer Brinkmanns transportiert, erreichen die Tonaufnahmen einen Grad an Authentizität, der alles Geschriebene übertrifft. Mit ihrer Mischung aus schonungslosem Alltagsdokument eines Dichters, der nicht mehr weiter weiß, und Experiment mit dem Medium suchen sie zugleich ihresgleichen in der Geschichte des Hörspiels.

 

Mit einer weiteren Überraschung aus dem umfangreichen Nachlass Brinkmanns, in dem noch so mancher Schatz seiner Entdeckung harrt, wartet der Rowohlt-Verlag auf: Der Originalausgabe von „Westwärts 1 & 2“, dem Gedichtband, mit dem Brinkmann 1975, nach fünf Jahren selbst auferlegter Publikationspause, wieder an die Öffentlichkeit treten wollte. Das Buch wurde nach Brinkmanns Tod zu einem sensationellen künstlerischen wie kommerziellen Erfolg – allerdings in einer stark gekürzten Form. Aus finanziellen Erwägungen des Verlags musste am Umfang gespart werden: Brinkmann entfernte damals 26 Gedichte sowie das über 70-seitige mit Fotos illustrierte Nachwort, die jetzt in der „Urfassung“ erstmals vorgelegt werden. Hier zeigt sich neben dem Polterer und Hasser Brinkmann der sensible und zärtliche Dichter, dessen Lyrik mehr mit der „Imaginist“-Tradition eines William Carlos Williams gemein hat als mit zeitgenössischem literarischen Aktionismus oder avantgardistischen Experimenten. Stets geht es Brinkmann um das klare Bild, den Moment der genauen „fotografischen“ Wahrnehmung, in dem alle Sprachbarrieren und damit ideologischen Schablonen überwunden sind. So zum Beispiel in dem bislang unveröffentlichten „‚Liebe‘“: „Wir schauen, zusammen, aus / dem Fenster in den Schnee, // der seit einigen Stunden / leicht, klar, kalt, fällt. / Du hast deinen Tittenhalter // wieder umgelegt, du bist noch / fast nackt. Das Zimmer / ist warm und friedlich, // der Vorhang ist offen, / kein elektrisches Licht. // Überall sind die gleichen / Paragraphen, ‚berühren verboten‘, / und es ist dasselbe Geschäft, // und als ich dich zum ersten Mal / sah, dachte ich anders, und / das ist jetzt.“

 

Nicht immer sind Brinkmanns Gedichte „so einfach wie Songs“ – ein Anspruch, den er in der „Vorbemerkung“ formuliert. Stellen die „Westwärts“-Langgedichte in ihrer komplexen Verschränkung von Sprachreflexion, genauen Bildern und Zeitkritik einen Höhepunkt der deutschsprachigen Lyrik dar, ist in dem umfangreichen Nachwort die Tendenz zur endlosen und schnell nervenden Selbstwiederholung festzustellen, von der auch die Tonaufnahmen und Materialbände geprägt sind.

 

Auch wenn Brinkmann als Vater des deutschen „Pop“ gilt – mit den Konsens-Texten eines Krachts oder Stuckrad-Barres haben seine oft nicht einfach zu lesenden Gedichte wenig gemein; eher mit der Zeitanalyse und der Experimentierfreudigkeit Thomas Meineckes und Andreas Neumeisters – zwei Autoren, die im übrigen auch auf der Hommage-Veranstaltung zum 65. Geburtstag Brinkmanns am Samstag in den Münchner Kammerspiele gesichtet wurden. Und als Brinkmann aus den Boxen etwas von „Wichtelmännern“ schrie, denen man mit der Brechstange die Fresse einschlagen sollte, und gleich im Anschluss von der guten Tomatensuppe bei einem „Soft Machine“-Konzert erzählt, da schmunzelte auch der Überraschungsgast des Abends, die ob der Nachlass-Verwaltung oft gescholtene Maleen Brinkmann.

 

Thomas von Steinaecker

 

Rolf Dieter Brinkmann: Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973. Intermedium Records (5 CDs) amazon

 

Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2: Erweiterte Neuausgabe. Rowohlt Verlag 2005 amazon