18. April 2005

Retrograd

 

 

Alle einfach, ja schlicht gebauten Filme haben auch eine einfache Sprache. Selbst die etwas allgemeiner gefassten Sätze werden schmucklos vorgetragen. Und prompt versteht man sie erst einmal nicht. Das ist ihr größter Charme. „Im Boxen geht immer alles rückwärts“ ist so ein Satz, vom Erzähler des Films aus dem Off zwei-, dreimal gesagt. Der Erzähler scheint den Sinn des Satzes zwar gleich zu erklären, aber es ist schön, dass man trotzdem nichts versteht. Das Großartige an solchen Sätzen ist, dass man sie zum Verständnis des Films gar nicht braucht, dass sie aber eine Art Nebenschauplatz einrichten, an dem ein Kampf ausgetragen wird, den der Film selbst nicht zeigt.

 

Frankie Dunn (Clint Eastwood) ist ein fähiger Boxtrainer und erstklassiger Blutstiller. Technisch kann man alles von ihm lernen. Und doch hat er kein Händchen für ein anderes Timing, nämlich seine Schäfchen zum rechten Zeitpunkt zu präsentieren. Er ist kein richtiger Manager. Ihm fehlt der Glaube. Kein Wunder, dass er seit Jahrzehnten vergeblich versucht, in die Mysterien des katholischen Glaubens einzudringen. Frankies Priester hat alle Hoffnungen fahren lassen, diesen Mann bekehren zu können. Der Heilige Geist erfragt sich nicht, er zeigt sich. Und wem das Wunder der unbefleckten Empfängnis nicht eingeht wie eine Oblate, der sollte vielleicht einfach nur Briefträger von Botschaften werden, die ihn persönlich nichts angehen. Der Briefträger in diesem Film ist aber kein Postbote und auch nicht Frankie, sondern das Schicksal, das zum zweiten Mal an seine Tür klopft. Was auch immer mit Frankies Tochter passiert ist, warum sie seine wöchentlichen Briefe nicht liest und an ihn zurückschickt mit dem Vermerk „Annahme verweigert“ – Frankie bekommt die Chance, etwas gut zu machen. Er will es erst gar nicht, er will keine Frauen trainieren, aber plötzlich steht diese Frau vor ihm und lässt nicht locker. Maggie ist zwar schon dreißig, aber der Ehrgeiz nimmt mit den Jahren ja eher zu. Vielleicht auch nur die verzweifelte Einsicht, es sonst überhaupt nicht mehr zu schaffen.

 

Maggie und Frankie werden bald ein unschlagbares Paar. Allein diese weibliche Boxmaschine in actu zu sehen lohnt den Besuch des Films. Die meisten Kämpfe gewinnt Maggie in den ersten zehn Sekunden der ersten Runde. Boxen als tachistisches Kunstwerk – ein Pinselhieb hier, ein Pinselhieb dort, so, fertig. So zeigte es früher einmal der informelle Maler Goetz dem staunenden Publikum. Es darf also herzlich gelacht werden bei diesen Pseudokämpfen, bei denen junge Frauen lustig durch die Luft purzeln. Dann steht Maggie auch schon im Kampf um die Weltmeisterschaft im Welter-Gewicht im Ring, gegen eine Deutsche, die gar nicht deutsch aussieht (à la blond, weiß, blaue Augen), Maggies Gegnerin wirkt wie eine dämonische Widergängerin ihrer selbst. Es scheint – und das ist sehr beeindruckend gefilmt – als treibe ein böser Geist Maggie in die Arme von Frankie. Und es ist das erste Mal, dass Maggie rückwärts geht. Und man weiß, es ist das Rückwärtsgehen einer Scheiternden. Dann kommt der Moment, an dem Maggie locker lässt, nicht aufpasst, eine dieser Sekunden, wo der Schiedsrichter nicht richtig aufpasst, und in diesem Moment schlägt die Gegnerin zu. Maggie fällt unglücklich, die spätere Diagnose lautet Wirbelbruch, sie bleibt vom Kopf abwärts gelähmt. Frankie realisiert, dass er plötzlich mit zwei lebenden Leichnamen zu tun hat. Seine Tochter körperlich intakt, aber ansonsten unzugänglich, sein Schützling versehrt, aber anhänglich. Ganz zum Schluss wechselt Frankie die Gangart, es geht vorwärts, aber da, wo vorne ist, wartet nur ein Zitronenkuchen. Aber der schmeckt sehr gut.

 

Dieter Wenk (04.05)

 

Clint Eastwood, Million Dollar Baby, USA 2004