7. April 2005

sub-sub

 

Wer glaubt, mit Nathalie Sarraute auf rauschende Partys mitgenommen zu werden, wird immer enttäuscht. Auf diesen Partys gehen einem die Augen nur insoweit auf, um besser zu hören. Wir lesen einen Satz, zwei, und sofort kommt die Konversation ins Stocken. Es geht nicht weiter. Nicht, weil den Leuten nichts mehr einfällt. Etwas muss passiert sein. Eine Kleinigkeit. Fast nichts. Aber diese Winzigkeit reicht der Autorin, um anzuhalten. Ein Satz, eine Phrase fällt ihr auf, nicht, weil sie irgendwie bedeutsam wäre, sondern weil sie oder der Satz auf eine noch unerklärliche Weise akustisch weh tun. Eine Spur Vulgarität im distinguierten Umfeld, eine irgendwie entlarvende Geste, mehr braucht es gar nicht, damit die kleinen Sarraute’schen Texte loslegen können. Die Party geht weiter, aber die Autorin zieht sich in sich selbst zurück, vielleicht mit einem unverbindlichen Lächeln im Gesicht, und hinter der höflichen Maske beginnt die Analyse, die Analyse der den kleinen Schock auslösenden Person auf ihre unsichtbaren, aber doch greifbaren Schwächen –, aber das ist im Grunde schon Literatur. Der Leser wird die analysierte Person nicht näher kennen gelernt haben. Was er lernen mag, ist die Art und Weise der Betrachtung, die Subtilitäten der Sezierung, die Anatomie am lebenden Objekt, das aber nur einen Vorwand liefert für das Anwerfen der Maschine. Es gibt keine Namen, keine Gesichter, keine Schuhgröße, eine kleine verrutschte Aussprache als Katalysator, und schon spinnt die Schreibspinne ihr marginales und doch so kostbares Objekt in ihren Sprachschleim ein. Es ist wie ein zweiter Tanz um das Goldene Kalb, diesmal als Polizist. Oder besser als Privatdetektiv. Er hat die gleichen Marotten wie Columbo. Eine Manie, die schon Instinkt geworden ist. Aber diesen Instinkt gibt es immer zweimal. Einmal als der des Opfers, desjenigen, der sich nach etwas Sonne und Aufmerksamkeit und Selbsterhöhung sehnt, und als der des Beobachters, der das nicht glatt durchgehen lässt, der diese so einfache wie unerträgliche Einrichtung der Natur immer wieder unter die Lupe nehmen muss, der nicht aufhören kann, ins Sprachlabor zu gehen und genau die Stelle zu bezeichnen, an der es weh tat – für den Detektiv, der natürlich immer auch ein bisschen insinuiert, dass die anderen Gäste zu dem gleichen Ergebnis kommen könnten und würden, machten sie sich nur die Mühe, die Leere der Party in eine Party der Leere zu verwandeln. Wo Sonne ist, ist auch immer mehr oder weniger Wüste, und genau diesen Prozess der Vertrocknung, des Ausdörrens bilden die Texte Sarraute’s ab. Wein wird zu Wasser, das auch schnell verdunstet, das Sofa zum Stein, der Flur zur Fata Morgana. Nichts ist, was es ist, in einem imaginären Nebenzimmer werden die Scheinwerfer angeworfen, alles verkriecht sich, übrig bleiben Schatten, Silhouetten, die mit einem inquisitorischen Muster konfrontiert werden. Fünfzig Jahre Sarraute’sche „Tropismen“ – und man muss sagen, es hat sich nicht viel getan, die alte Dame des Nouveau Roman schreibt immer noch die gleichen Texte – und wir gehen immer noch auf die gleichen Partys.

 

Dieter Wenk (03.05)

 

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Nathalie Sarraute, Ici, Paris 1995 (Hier, Kiepenheuer & Witsch 1997)