6. April 2005

Amerika verschwindet

 

Amerika. Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Kein anderer Ort bietet mehr Projektionsfläche für einen Neuanfang. Vom Tellerwäscher zum Millionär oder vom Goldgräber zum gerichteten Verbrecher hält es alle möglichen Lebens- und Sterbeweisen bereit. Der 39-jährige Deutschlehrer Viktor Scheichenwartz aus Frank Heers Romandebüt „Flammender Grund“ verlässt seine Heimatstadt Zürich Hals über Kopf und nimmt in Amerika teils absichtlich, teils zufällig eine Identität nach der anderen an. Er ist auf den Spuren seines Urgroßvaters, dessen Postkarte 92 Jahre verspätet in der Schweiz ankam. Eine solche Karte schreibt auch Viktor: „Liebe Eltern. Mir geht es gut. Wie geht es euch? Euer Sohn Viktor.“ Mehr fällt ihm nicht ein. Das ist seltsam. Denn mittlerweile ereilt ihn dasselbe Schicksal wie das seines Ahnen.

 

Zum Mörder ist er geworden. „Ich schoss nicht im Affekt“, gibt Viktor vor. Wir wissen es besser, denn außer Affekt und Lethargie treibt diesen Menschen nichts um. „Man könnte mich einen Mann ohne Leidenschaften nennen.“ Das trifft es schon eher. Obwohl, Perversität ist schon eine Art Leidenschaft. Und pervers ist Viktor, wenn auch weniger in der Umsetzung als in alkoholgeschuldeten Gedankenblasen. Ansonsten ist er dauernd auf der Flucht, nicht nur vor der Schweizer und US-Polizei, sondern auch vor Gesprächen, großen Gefühlen und Problemen. Zudem ist der abgehalfterte Einzelgänger mit seinem „Fünzehn Jahre Stüssi Möbel“-T-Shirt wahnsinnig eingebildet, schaut auf Memmen und Heuchler herab, wenn die Hitze Nevadas ihn nicht gerade zum Tarzan gebiert, der auf der Kühlerhaube tanzt und in die Nacht hinausschreit.

 

Nur eine Identität, die er annimmt, fällt aus dem Rahmen seines apathischen Charakters. Er schlüpft in den weißen Anzug des erschossenen Entertainers Dick Cassidy und singt so göttlich, dass ihm die Frauen zu Füßen liegen, bis die Show wortwörtlich in seinen Drink platscht und man gar nicht mehr weiß, wie viel Wunschvorstellung der Wahrheit den Garaus macht. Das sind die herausragenden Stellen des Romans. Heer arbeitet mit Erzählbrüchen. Manchmal mit kursiver Schrift gekennzeichnet, wenn die Geschichte in der Vergangenheit spielt, meist bricht der Gedanke, das Bild oder die Handlung aber auch einfach mitten im Satz ab. Das ist vor allem bei den Stellen, an denen der Alkohol ein Wörtchen mitredet, so frappierend wie passend.

 

Man sollte beim Lesen die Musik-Tracks hören, die Frank Heer mit dem Elektroduo Bingo Palace zusammen als Soundtrack zum Buch komponierte und die zum Teil auf der Internetseite des Verlags heruntergeladen werden können. Die leichten, fast fröhlichen Klänge sind auch in dem Buch die wesentlichen. Die unreflektierte Coolness männlicher Brutalität, von der „Flammender Grund“ vordergründig handelt, hält dem Humor und der ausgefeilten Komposition glücklicherweise nicht stand. „Es war mein erster Überfall“, heißt es in wunderbar ironischer Lakonie zu Beginn des Romans. Und bestimmt wird er auch nicht Heers letzter sein.

 

Gustav Mechlenburg

 

 

Frank Heer: Flammender Grund. Hoffmann & Campe, Hamburg 2005

 

www.hoffmann-und-campe.de/go/flammender_grund

 

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