17. März 2005

Phantasten

 

Dies ist kein Buch übers Tangotanzen, nichts daraus lässt sich als Requisite zum gegenwärtigen Modegeschlängel verwenden. Es ist ein Buch über Buenos Aires. Die Hauptstadt Argentiniens ist „wie ein perfektes Damebrett entworfen“. Es sollte keine Schwierigkeiten machen sich zurechtzufinden, aber sonderbar, man verirrt sich unweigerlich und zwar in dem Sinne, wie Walter Benjamin die Erfahrung einer Aura beschrieb, als sonderbares Gespinst von Raum und Zeit.

 

Tomás Eloy Martinez lässt einen jungen Mann, Bruno, in die Stadt am Rio de la Plata reisen. Eine Stadt, die platzt vor Menschen, Lärm und Betriebsamkeit, in der man aber auch Stunden laufen kann und niemandem begegnet.

 

Bruno soll über Borges’ Essays zu den Ursprüngen des Tango, eine Doktorarbeit schreiben. Er ist angereist, um einen Tangosänger zu hören, der einzigartig und noch besser als Gardel sein soll. Bruno verwirrt sich prompt und verbringt seine Zeit damit, einem Phantom nachzujagen. Er geht den Indizien, die man ihm liefert, auf den Leim. Seine Art, die Informationen auszuwerten, ist akademisch, er verpasst die Orte und Termine, weil er glaubt, dass hinter den Angaben ein tieferer Sinn steckt. Auf der Suche nach dem verborgenen Klartext vergisst er, dass der Inhalt, im Gegensatz zur meisten Literatur, nicht das Ziel verrät.

 

Buenos Aires ist kein Rebus. Das Dickicht der Stadt ist keine Metapher für Gott oder den Polizeistaat. Selbst mit kabbalistischer Zahlenmystik wird man der Stadt nicht Herr. Und Tango ist auch keine Zauberformel. Tangogesang ist nur ein Mittel. Das Ziel ist die Erinnerung an ein Erlebnis, was man nicht selber hatte. Bruno erlernt in Buenos Aires die Technik der Erinnerung ohne eigene Erfahrung. Er beginnt ein Buch über den Wundersänger Julio Martel zu schreiben, obwohl er ihn nie hört.

 

Die Vorliebe für fantastische Literatur in Argentinien, mit Borges an der Spitze, erklärt Martinez mit dem Umstand, dass die Wirklichkeit in Buenos Aires nichts mit sich anzufangen weiß, „sie verbrennt die Menschen“. Was es nicht geben soll, wird deshalb geleugnet, obwohl man täglich daran vorbeigeht.

 

Martinez hat keine mimetische Technik. Er bildet den psychischen Wirrwar nicht in Worten nach. Er wahrt Distanz, und beschreibt präzise. Im „Tangosänger“ taucht, wie schon in anderen Veröffentlichungen von Martinez, der „Wasserpalast“ als architektonisches Fabelwesen auf. Ein Wasserwerk ohne Wasser, seit Jahrzehnten funktionslos und von den Bewohnern der Stadt scheinbar vergessen. Man gibt vor, nichts zu sehen, kann aber deshalb umso besser alles glauben. Das Gurgeln und Schnauben der Millionen Kubikmeter eingebildeten Wassers im Röhren- und Zubersytem des Hauses. Schließ deine Augen und schau!

 

Tangogesang ist eine Technik der Wiederauferstehung. Man verfertigt die Gedanken beim Singen. Die Absicht, die Vergangenheit als Ewigkeit zurückzugewinnen, spült, mit jedem neuen Gesang, durchs Röhrensystem der Imagination eine weitere Geschichte an Land.

 

Die Geschichten sind traurig. Wie man eine Leiche klaut und in einem Tanklastwagen durch die Stadt kutschiert. Wie man Doppelleben führt, wie man verraten wird. Martinez ist kein Phantast, aber betroffen von dem Plan dieser Menschen zu überleben, indem sie leugnen, was sie umgibt. Martinez berichtet von einer Art und Weise zu denken. Ein dreiminütiges, (so lange dauert ein Tango) Zusammenziehen aller Vorstellungskraft, auf dass es still werde an einem Ort brüllenden Verkehrs. Natürlich wird es nicht still, aber verglichen mit der Konzentration der Phantasten erscheint die Wirklichkeit nur marginal. Martinez hat einen riesigen Essay über die psychische Struktur von Buenos Aires geschrieben und diesen in einem Roman versteckt.

 

Nora Sdun

 

Tomás Eloy Martinez: Der Tango-Sänger, Roman, Suhrkamp 2005, 230 Seiten, 19,80 €

 

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