9. März 2005

Der Androgyn, revisited

 

Die Rezeption Hubert Fichtes ist seit längerem durch ein merkwürdiges Missverhältnis gekennzeichnet: Zwar ist der Name des 1986 gestorbenen Hamburger Schriftstellers (nicht zuletzt dank prominenter Fürsprecher von Diedrich Diederichsen über Rainald Goetz und Thomas Meinecke bis hin zu Kathrin Röggla) zur Chiffre für eine andere, schillernde, auch nicht einfach als Pop fortetikettierbare BRD-Literatur geworden, selten genug aber ist diese neue Popularität mit einer mehr als punktuellen Kenntnis des Werks und einer über Klischees und Mythisierungen hinausgehenden Vertrautheit mit der Person verbunden.

 

Diese Schieflage hat freilich nicht allein mit der Art zu tun, wie Popstrategien der Aneignung funktionieren, sondern nicht zuletzt mit der Umfänglichkeit des oft sperrigen, fragmentarischen Gesamtwerks, dem Mangel an dokumentarischem oder biografischem Material, schließlich dem Umstand, dass die Bücher, die Hubert Fichte einmal bekannt gemacht haben, seit einigen Jahren nur antiquarisch zu haben waren. Lieferbar war einzig das großangelegte, labyrinthisch-fragmentarische und sündteuere Nachlassprojekt der „Geschichte der Empfindlichkeit“.

 

All dem wollen der Fischer-Verlag, der das Werk Fichtes betreut, und die S. Fischer Stiftung, die seit kurzem sämtliche Rechte an diesem Werk besitzt, nun – aus Anlass von Fichtes Siebzigstem in diesem Jahr – abhelfen: Im April wird auf 3sat Thomas Palzers von der Stiftung finanzierter Dokumentarfilm „Hubert Fichte – der schwarze Engel“ zu sehen sein, im Herbst eine große Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen, auch einen vom Fichte-Experten Peter Braun verfassten Reiseführer durch das Gesamtwerk hat der Verlag angekündigt.

 

Und nicht zuletzt: Endlich liegen die frühen Romane Fichtes, „Das Waisenhaus“ (1965), „Die Palette“ (1968), „Detlevs Imitationen ,Grünspan’“ (1971) und „Versuch über die Pubertät“ (1974) wieder als Taschenbücher vor. Die vier Bände bilden den ersten Werkkomplex, den Fichte nach Abschluss eines nie realisierten fünften Bandes unter dem Titel „Der Androgyn“ zusammenfassen und – nach Revision – wiederveröffentlichen wollte. Diese ursprüngliche Konzeption des autobiografisch fundierten Großprojekts hat Fichte in den späten 70ern zugunsten der „Geschichte der Empfindlichkeit“ aufgegeben.

 

Es bleiben damit – einmal abgesehen von ungezählten Radioarbeiten und journalistischen Texten – drei Hauptkomplexe: die vier vorliegenden Bände des „Androgyns“, ein umfangreiches dokumentarisches Werk (Interviewbände und ethnografische Arbeiten), schließlich die „Geschichte der Empfindlichkeit“, die unterschiedlichste Textformen vom Roman bis zur Tagebuchaufzeichnung und von der Glosse bis zum Interview integriert.

 

Es bleibt zu hoffen, dass nach diesem ersten verlegerischen Schritt auch die „Geschichte“ einmal in bezahlbarer Gestalt auf den Markt kommt, vor allem aber, dass die stets stiefmütterlich behandelten dokumentarischen Arbeiten Fichtes neu präsentiert werden, zumal Neuauflagen der großen Gesprächsbände „Hans Eppendorfer. Der „Ledermann spricht mit Hubert Fichte“ (1977) und „Wolli Indienfahrer“ (1978) sind spätestens seit Kathrin Rögglas Entdeckung des „akustischen Fichte“ und der faszinierenden CD-Edition von Fichtes „St. Pauli Interviews“ im Kölner supposé-Verlag eigentlich überfällig. Wann, wenn nicht jetzt, sollen sie eine neue Leserschaft finden?

 

Leider bleibt abschließend anzumerken, dass man bei Fischer – wohl auch aus einer gewissen, erfahrungsreichen Skepsis gegenüber der Reichweite dieses Autors, überhaupt: dieser Art von Literatur – keinen großen editorischen Aufwand mit den frühen Romanen betrieben, sondern reine Nachdrucke vorgelegt hat. Neu sind einzig die Cover mit den so schönen wie bezugslosen Collagen Wolf Kuglers. Keine Nachwörter, die schließlich philologisches Staubwirbeln nicht sein müssten, nicht einmal griffige Klappentexte. Stattdessen Empfehlungen, die längst keine mehr sind: Wer schließlich liest Hubert Fichte ausgerechnet, weil Walter Jens ihn gerühmt hat? Ärgerlich auch, dass die einst offenbar frei zu Werbezwecken erfundene Behauptung, es habe bei Veröffentlichung der „Palette“ Strafanzeigen nur so gehagelt, nicht etwa ironisch als Mythos wiederkehrt, sondern als Tatsache und Argument – beides zu Unrecht. Von Klagelust und Aufregung konnte bei der Veröffentlichung nicht die Rede sein, das Buch wurde zwar keineswegs durchweg euphorisch, doch aber wohlwollend aufgenommen und hatte schlimmstenfalls einiges an schiefer Bildlichkeit in den Feuilletons zur Folge. Wichtiger noch: Es hatte einen Skandal nicht nötig – und hat es heute noch viel weniger.

 

Jan-Frederik Bandel

 

Hubert Fichte: Das Waisenhaus, Fischer Tb., 2005, 172 Seiten

Hubert Fichte: Die Palette, Fischer Tb., 2005, 344 Seiten

Hubert Fichte: Detlevs Imitationen „Grünspan“, Fischer Tb., 2005, 242 Seiten

Hubert Fichte: Versuch über die Pubertät, Fischer Tb., 2005, 298 Seiten

 

Hubert Fichte: St. Pauli Interviews, Audio-CD, 77 Minuten, Originalaufnahmen 1969, hrsg. v. Nils Röller und Klaus Sander, mit Fotos von Leonore Mau, supposé 2000

 

 

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