23. Februar 2005

Selbstmörderischer Zweifel

 

Hinausgelaufen und in den Park gerannt. Rekordverdächtige zehn Runden unter kahlen Winterbäumen gesprintet und in den Schnee gefallen. Matschig. So kann es einem gehen, wenn man den neuen Roman von Andreas Maier durchgelesen hat. Was nicht gegen dieses Buch spricht. Im Gegenteil. Die nebenwirkenden Bauchkrämpfe muss man in Kauf nehmen. Der Erzähler ist schuld, denkt man. Ist nämlich zum Verrecken nicht greifbar, ist überall und nirgends, Abhöranlage und innere Stimme. Und er verzichtet auf ermutigende Erklärungen. Das Meinen und Welterklären überlässt er vertrauenabschreckenden Hausmeisterinnen, hessischen Politikern und abwesenden Ideologen aus Chabarowsk, Russland.

 

Misstraue den Menschen, Leser! Oder, wie es im Buch heißt: „Die Menschheit funktioniert wie ein Krebsgeschwür, und ihr Wachstumsauslöser ist das Streben nach Glück und Wohlbefinden.“ Aber auch hier distanziert sich der Erzähler. Der das sagt, tritt nicht in Erscheinung. Er heißt Kirillow. Seine Meinung wird von den studentischen Protagonisten als „Traktat über den Weltzustand“ gefeiert.

 

Der Anfang des dritten Romans erinnert vielleicht an die beiden ersten Veröffentlichungen des Autors, „Wäldchestag“ und „Klausen“. Mit „Kirillow“ ist Maier jetzt allerdings aus der hessischen und über die Südtiroler Provinz in die Stadt gelangt. Nach Frankfurt. Gerüchte, die Maier wie gehabt polizeigenau aufzeichnet, kreisen diesmal um Kober. Kober ist Anfang 20 und sehr schweigsam, was ihn in den Augen seiner kleinbürgerlichen Nachbarschaft überaus suspekt erscheinen lässt. Kober steht im Zentrum einer Clique, die vorzugsweise Vorlesungen schwänzt und fantastisch viel trinkt, Handkäs und sehr, sehr viel Würstchen isst. Gemeinsam mit seiner Freundin Anja kümmert sich Kober um die alte Frau Gerber. Auch Anjas Bruder Julian taucht am Krankenbett der Alten auf.

 

Kober und Julian verbindet ein selbstmörderischer Zweifel an Sprache, Welt und Wirklichkeit. Doch während der ältere Kober seinen Ausweg im Schweigen gefunden hat, jagt Julian durch Frankfurter Kneipen („Café Ausweg“!), einiger Frauen Betten und verzweifelte Erklärungsmonologe. Der Erzähler folgt vorzugsweise diesem und anderen Vielrednern. An Julians Seite tauchen launisch laszive Russinnen, Ringelhosen-Mädchen und Frankfurter Straßenkämpfer auf. Kober bleibt das schweigend leere Zentrum.

 

Der Autor legt Links aus. Nicht nur die anwesenden und abwesenden Russen verweisen auf Dostojewskis „Dämonen“. Böll und Frisch sehen sich hier identitätsproblematisch bestätigt. Und wer von Seite 139 des Romans angeregt auf die Website www.kirillow.de wechselt, findet genau sechs Links zu Texten von und über Andreas Maier. In einer Preisrede des 37-Jährigen heißt es über den 16-Jährigen, sehr julianschen Andreas Maier: „Ich war kein Mann, kein Bub, ich war gar keine Person, ich war eine Art von Wahrnehmung, die zunehmend ohne Kategorien funktionierte.“ Vom Verlag wird „Kirillow“ nun – und man meint das milde Lächeln auf den Lippen des versierten Klappentexters zu lesen – als unterhaltsamer Umgang mit der „Krankheit Jugend“ beschrieben. Bitte? Dass distanzierte Betrachtung nicht zu überheblicher Besserwisserei führen muss, hat Maier in seiner Dissertation über Thomas Bernhard gezeigt, die 2004 neu erschienen ist. Vatermord wurde ihm indes von denen vorgeworfen, die an seinen Erstlingsromanen vor allen Dingen den Bernhard’schen Konjunktiv lobten.

 

Von Frankfurt aus geht es am Ende schließlich doch wieder aufs Land. Aber von wegen Idylle! Countdown im Kreis Lüchow-Dannenberg. Der Castor, der operative Abfall des Krebsgeschwürs Menschheit, befindet sich auf den Gleisen irgendwo zwischen La Hague und Gorleben. Noch ist er nicht da. Noch tummeln sich die Frankfurter Demonstranten, ansässige Bauern und anderer Leute Kinder auf einer Picknickdecke. Nebenan spielen ein paar Polizisten Fußball. Immer nah am Mann bleibt auch der Erzähler, springt von Jobst zu Julian zu Julia, der Würstchentrieb-gesteuerten Russin. Paradiesisch ist Julians Scheunensex, bevor es zum dramatischen Finale kommt – nach dem man, wie gesagt, individuelle Maßnahmen zur Bekämpfung von Bauchkrämpfen ergreifen muss. Anja bleibt übrigens bei der sterbenden Frau Gerber in Frankfurt. Aber auch sie erhält vom Erzähler dafür keine Siegerurkunde.

 

Katharina Müller-Roselius

 

Andreas Maier: Kirillow, Suhrkamp 2005 amazon

 

Andreas Maier: Die Verführung