25. Januar 2005

„Passe-Muraille“ revisited

 

Wahrscheinlich wird man nie begreifen, dass die Wunschmaschinen, aus denen man angeblich bestehen soll, saublöd sind. Andererseits waren die Wunschmaschinen ihrerzeit ja so konstruiert, dass sie ihre Dämlichkeit gar nicht bemerkten, denn wo war das Merkheft, in dem sie ihren Dauerreparaturnotstand niederschreiben konnten. Man kann also genauso gut wieder von Wünschen sprechen, denn auch die wollen nichts anderes als Anschluss, zum Beispiel auf Personal- oder auf Länderebene. „… wo es besser zu leben ist…“ Das Dumme an Wünschen ist, das man erst sehr lange auf die Erfüllung warten muss, und wenn es dann soweit ist, kommt einem die ganze Physiologie in die Quere und man erkennt, dass man das Haus der Dämmerung nie hätte verlassen sollen.

 

Sabine Busse ist mehrfach isoliert. Sie wohnt bis 1989 im Osten, ist blind, und hat in diesem Roman keinen richtigen Anschluss an das zahlreiche übrige Personal. Ihre Geschichte schreibt eine andere Romanfigur auf, Leo Lattke, ein bedeutender West-Journalist. In einer anderen Schrifttype liest man das. Leo Lattke, der Journalist, reportiert stellvertretend in dieser Reportage über die Mauer, die nicht ganz fällt, wie man ja inzwischen weiß. Anders gesagt: Die, die durch wollen, bleiben stecken. Sabine, so berichtet Leo Lattke, soll sehend gemacht werden. Sie wird operiert. Natürlich im Westen. Die Operation gelingt, der Patient ist trotzdem zwar nicht tot, aber irgendwie seltsam befangen. Sabine Busse sieht, das Licht fällt ein auf die Netzhaut, aber alles steht Kopf. Der Umkehr-Automatismus, der schon Kepler Kopfzerbrechen bereitet hat, stellt sich nicht ein. Die westliche Disziplinierung des Auges findet nicht statt. Sabine Busse hat radikal den Schillerschen Spieltrieb und kann ihn nicht abstellen. Sabine endet in Umnachtung.

 

Leider steht diese herzergreifende Geschichte erst ganz am Ende dieses Buches, auf den Seiten 526-538. Sie ist die Kurzfassung des Romans, der, um es vorsichtig zu sagen, etwas zu lang geraten ist. Aber bei zwanzig Hauptpersonen sind 600 Seiten fast eine Kurzgeschichte. Das ist das Problem des Romans. Er ist maßlos. Egal, ob drei Personen, zwanzig, vierzig oder tausend Figuren geschildert würden, es wäre die gleiche anekdotenhafte, kolportagemäßige Präsentationssauce à la Short cuts. Dann doch lieber gleich nur die „in den Abgrund geworfene“ allégorie réelle lesen. Die Leute aus dem Westen sind arrogant, intelligent, herzlos, hässlich, hübsch, geführt am Gängelband wirtschaftlichen Denkens (ausschließlich natürlich), die aus dem Osten sind, wie schon gesagt, blind, wünschend, sprunghaft (Mauersprung, bleiben trotzdem kleben) und schleimen wie irre (noch ein Grund fürs Nicht-Ankommen drüben).

 

Dieses Buch ist also kein Wiedervereinigungsroman, körperliche Vereinigungen finden hie und da statt, stilistisch wird auf Seite 426 unten der Höhepunkt erreicht: „Im Fahrstuhl umschlang sie [Lena, Ostfrau] ihn [Leo Lattke, Westmann] und schnurrte ihn an. Seine Arme hielt sie umfangen, und erst im Zimmer lernte sie Leo Lattke als Liebhaber kennen. Seine Hände griffen sicher und erfahren; sie wussten, wie eine Frau angefasst werden will. Sie fand es erregend, seinen harten Schwanz zart zu umschließen; die dicken Adern gaben diesem Organ eine unabweisbare Authentizität. Das ist ein Mann, dachte sie, und ich bin eine Frau.“ Die beiden bleiben aber trotzdem nicht zusammen. Alles zerfällt, Freundschaften, Körper (wegen zu viel Sonne und zu viel Radioaktivität), das Buch endet visionär in Thailand, wo der Tod versöhnende Bande stiftet. Zuletzt startet ein Schmetterling. Wo ist die Seele jetzt? Oder: Wer erlöst uns vom Fraktalen?

 

Dieter Wenk (1.05)

 

Thomas Brussig, Wie es leuchtet. Roman, Frankfurt am Main 2004

 

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