13. Januar 2005

Präraffaeliten im Alten Museum. "Natur als Vision"

 

Die Faustregel für Millionenstädte, dass man an keinem Ort der Stadt weiter als zehn Meter von der nächsten Ratte entfernt ist, lässt sich auch auf die Landschaftsgemälde der englischen Präraffeliten, die zurzeit im Alten Museum in Berlin hängen, anwenden. Nur dass es sich hier nicht um Ratten, sondern Häschen handelt. Überall springen die herum. Und man muss sich doch sehr wundern, dass die Maler, die für ihre anämisch, (angeblich vergeistigten) sichtbarlich weggetretenen Frauengestalten berühmt sind, so waldmüllerisch lebensfrohe Puscheligkeiten abbilden.

"Rejecting nothing, selecting nothing" lautete ihre Parole, und wer die präraffelitischen  Bilder stark subjektivierter Allegorie und Emblematik, die Wege zum Jugendstil und Symbolismus erwartet, geht leer aus.

Aber auch bei den rund 150 Exponaten zu Landschaften und Wiesenstücken gibt es die typischen Merkmale der "Pre-Raphaelithe Brotherhood" (u.a. John Millais, William Hunt, Ford Maddox Brown und Dante Gabriel Rossetti) zu bestaunen. Absurd leuchtende Lokalfarben. Alle Maler scheinen bei Abendlicht gearbeitet zu haben. Unangenehm blonde Wimpern - wie gesagt, rejecting nothing. Felsmassive, Wüsten und Gletscher wie am ersten Tag, und doch auch wieder eine über  Naturdarstellung hinausschießende Konnotation durch dramatische Komposition, beschwörerische Betitelung und, als habe man den Anlass, moosige Wassepflanzen abzubilden, aus den Augen verloren, eine selbstvergessene Strukturverliebtheit, die an Abklatsch-Techniken erinnert.

Seltsam die Schattenkante auf vielen der Bilder, die Maler stehen im Schatten, um sie sinkt das Licht und die angestrahlten Landstriche rücken ungreifbar hoch an den Horizont. Die Präraffaeliten waren nicht politisch aktiv, aber durchaus kritisch, sogar antikapitalistisch und sich der durch Industrialisierung ständig verschärfenden Unerträglichkeiten sehr bewusst. Es hilft, dies zu bedenken, wenn man stutzt vor den Idyllen, die auf eine geklitterte Wahrnehmung der Welt schließen lassen, also doch rejecting und selecting, aber egal, denn auch die Natur ist eine Arschgeige, zumindest in ihrer süßen Ungerührtheit.

 

Nora Sdun