5. Januar 2005

Experimentatoren

 

Auf was fahren die Leute immer noch am meisten ab? Auf andere Leute, und auf Drogen. Projektion, In(tro)jektion, zwei Seiten einer Medaille. Das Abfahren liegt daran, dass der Makel des Menschen nach wie vor riesig groß ist. Deshalb ist der Teufel auch jetzt noch im Spiel. Realpolitisch und fiktional.

 

Was vielleicht trotzdem nicht mehr so einfach zu beantworten ist, ist die Frage der Kausalität. Man würde sofort im moralischen Morast landen, ließe man sich darauf ein. Oder in gewitzten und aberwitzigen Theorien. Oder in einem Roman, der dann sowieso alles zusammenbringt. Aber der Teufel ist auch nur ein Spieler, der nicht alles vermag; außerdem betätigt er sich eigentlich nicht selbst als Romanautor. Grund genug also zur Annahme, dass keiner den Rücken richtig frei hat (diese Annahme bestätigt u.a. das zweite Kapitel dieses Romans).

 

Und dennoch ist es ja so (ausgenommen das menschlich nicht einsehbare transzendente Geschwafel), dass der Teufel immer auf den Menschen zukommt und dieser erst dann auf jenen, meist um festzustellen, dass er verarscht worden ist. Teufel machen blind, der Mensch gibt die Deckung auf, und erst wenn es zu spät ist, merkt er, dass die geile Spiegelrotunde nichts anderes war als ein fauler Apfel. Kein Wunder, dass es seit ewigen Zeiten heißt: Eva, oder heute: „Wilhelm, das war nichts“, sei er oder sie Meister, Gehilfe, Mittler oder sonst ein Agent, der aber doch nie Opfer ist (auch hier könnte man noch mal das zweite Kapitel erwähnen).

 

Dieses Buch macht teuflisch Lust auf Drogen, ja, so ist das. Weibliche Leser werden zusätzlich scharf gemacht durch eine charismatische männliche Romanfigur, die ständig von Frauen, die ihr begegnen, vergewaltigt wird. Lust ohne Ende, MTS (das ist der Name der Droge, salopp: Schwester Mitternacht) und Johannes Evangelis (das ist der Charismatiker aus Ungarn). Eigentlich eine schöne Fortsetzungsidee des nach wie vor unvollendeten Projekts der Moderne. Aber natürlich zerstören auch hier Drogen hoffnungsvolle Forscher-Beziehungen und stören weibliche Dauerlüste den alles andere als hehren Plan einer wissenschaftlichen Genom-Kartografierung des balkanesischen Lustobjekts. Agenten (siehe z.B. das zweite Kapitel) mutieren zu Doppelagenten, die auch ein bisschen wie James Bond lieben dürfen, Frauen entdecken plötzlich den Körper der Frau (MTS macht eben so geil wie Evangelis), und Wissenschaftler durchqueren hier symbolisch (also mit Wörtern, Theorien), real und auch sehr zauberhaft die Welt, dass es einem den Atem anhält – bei diesen Leuten ist irgendwie alles möglich.

 

Und das ist das schöne, aber auch erschreckende Gegengewicht zu dem, wovon sie, die Experimentatoren (einschließlich Teufel) ausgegangen sind: Berechnung. Das Substrat und das Ideelle sollen zusammengeführt werden, die Droge und der geistliche Führer, denn nichts ist verführerischer als ein kompakter Monismus, der einem das Blaue vom Himmel verspricht und dem es gelingen könnte, dass man, ohne dass man das merkt, zuletzt in einem Oswald Wiener’schen Bio-Adapter Platz genommen hat, der einen von allen Subjekt-Objekt-Spaltungen erlöst, und in und mit dem man dermaßen den Spaßfaktor ins libidinös Extreme transponiert, dass der Teufel keine Gelegenheit mehr hat, seinen Job zu tun. Und so müsste es am Ende nicht Sympathie für, sondern Mitleid mit dem Teufel heißen. Aber Gott sei dank ist auch bei Kirchner/Dath die „Verbesserung von Mitteleuropa“ noch nicht abgeschlossen.

 

Dieter Wenk (3.11.02)

 

Barbara Kirchner/Dietmar Dath, Schwester Mitternacht. Roman, Berlin 2002 (Verbrecher Verlag)

 

amazon