3. Januar 2005

Orgie mit Kristall

 

Jan Parlor kennt sich aus, wenn es um die Klassifikation von Härten geht, Ritzhärten. Diamant, Topas, Quarz, Glas, einfache Messerklinge. Die Kratzer an den Scheiben in der S-Bahn sind mit Quarz geritzt oder Härterem, mit keinem normalen Taschenmesser, weiß er.

 

Der Protagonist in Birk Meinhardts Debütroman "Der blaue Kristall" ist Mineraloge. Doch wenn Dr. Parlor auch ein gefragter Spezialist ist, sein Wissen nützt ihm sonst wenig. Die simple Klassifikation der Männer untereinander beispielsweise versteht er nicht. Er ist das einfache Taschenmesser unter den Männern. Alle anderen sind ihm an Ritzhärte überlegen. Er fühlt sich verletzt - ständig.

 

Jan Parlor hat einen lieben, introvertierten Vater, der auch Geologe ist. Schon als Kind steht er mit ihm vor Vitrinen voller Steine. Seine Schulfreundin begleitet die beiden einmal in die Steinsammlung und stiehlt dabei einen blauen Kristall. Sie schenkt ihn Jan, taucht aber nie wieder auf, da sie mit ihren Eltern in den Westen abgehauen ist. Später wird Jan Geologe und heiratet eine attraktive Frau. Als die Mauer fällt, will es der Zufall, dass er der Schulfreundin wieder begegnet. Sie hat einen Mann, Ritzhärte 10, also Diamant unter den Männern und selbst querschnittgelähmt noch viriler als Jan. Den blauen Kristall trägt Jan von nun an mit sich herum. Ein unklarer esoterischer Wahn befällt ihn, seine Jugendliebe mit der Kraft des Steins zu gewinnen. Fetischistische Träume, Orgie mit Kristall. Seine Ehefrau verlässt ihn. Ein Mann, der dauernd an einem Stein in der Hosentasche reibt wie Aladin an der Wunderlampe, ist ja auch nicht zu ertragen. Das Reiben am Wunderkristall nützt aber nichts. Jans Streben nach großen Gefühlen endet katastrophal.

 

Birk Meinhardt hat einen beschwerten Mann im Taschenmesserformat erfunden. Sehr realistisch ist das geschrieben. Der Text stolpert durch Dialoge und Gedankenströme, wie sie sich im Hirn eben so ballen. Der Erzähler wechselt die Perspektiven, der Taschenmessermann aber wird auch so nicht schlauer. Fast wünscht man Jan ein Stäubchen Quarzsand, der Wunder tätigt, um sich als Leser von dieser Mittellosigkeit zu erholen. Aber Minerale sind keine Gefühle. Auch wenn einem als Kind gesagt wurde, ein Amethyst schützt vor Trunksucht, kann man sich selbst mit einem Halbpfünder in der Hosentasche hervorragend besaufen.

 

Gustav Mechlenburg

 

Birk Meinhardt: "Der blaue Kristall". Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2004, 280 Seiten, 19,90 Euro

 

amazon