17. Dezember 2004

Endgültige Enttäuschung

 

„Die Kunst, zu einem von Krisen und Katastrophen angereicherten Leben zu finden“ lautet der Untertitel dieses schmalen Bandes, der als Ratgeber in einer Flut von Ratgebern der wesentliche, der (vermeintliche) Anti-Ratgeber ist. Während Sachbuchautoren und Psychologen mancher Schulen vorgeben, sie hätten den Eingang zu einem von irdischen Qualen befreiten Leben gefunden, oder würden zumindest das Licht erahnen, das Linderung verspricht, propagierend, wie Mensch zu sein hat und (noch) nicht ist, holt Boyd einen da ab, wo man sich an einem deprimierenden, kalten Dezember-Sonntag befindet: in der steinzeitlichen Höhle des eigenen Schädelknochens, umnebelt von der Tristesse seiner Erwartungshaltungen, die von verrenkten Nebenhoden umgondelt, ins Blaue der TV-Unterhaltung, dem blassen Nichts also, entgegen (ent)geistert.

 

Da kommt einem der Boyd gerade richtig, da er nicht einmal das Nichts beschönigt, das uns umgibt, sondern macht es noch unerträglicher und somit für den Augenblick einer Erkenntnis bewohnbar. In essentiellen, einseitigen Texten werden die Problemzonen (Leben / Selbst / Familie / Liebe / Karriere / Politik / Philosophie / Religion / Tod / Erleuchtung) geoutet, gebündelt, verschnürt und als Care-Pakete vor die Wimpern der Leser geworfen. „Umarme deine innere Leiche“ (Meine innere Leiche ist nicht tot) oder „Der Vorort in uns“ („Ich muss die Doppelhaushälfte meiner Seele verlassen“) heißt es da, wenn es darum geht, das Dilemma des (nicht-so-richtig-da-)Seins in der angeblichen Phase des „Spät“-Kapitalismus zu meistern (hört dieses „Spät“ eigentlich nie auf?).

 

Mit großer Kenntnis an Philosophie, Psychologie und einer genüsslichen Lust an der Kapitulation vor neurotischen Verstrickungen erwachsen tiefe Einsichten, die nicht die Sicht auf Äußerlichkeiten versperren („Öffne Dich Deinem inneren Psychopathen“ – Ich bin nicht wahnsinnig, aber ein Teil von mir schon). Bei der Partnerwahl zum Beispiel hat der New Yorker Autor und Aktivist herausgefunden: „Du suchst nämlich nach dem falschen Menschen. Aber nicht einfach nach irgendeinem falschen Menschen, sondern nach dem richtigen falschen“ (...). Um dann als Rat kursiv zu konstatieren: Ich werde diesen besonderen Menschen finden, der auf die genau richtige Art der Falsche für mich ist.

 

Das macht Mut, nimmt es einen doch bei seiner Wahrnehmung ernst, dass keine Rettung in Aussicht dieselbe auch nicht trübt. Ähnlich geht es einem mit der Erkenntnis: Weil ich mich weder mit leidenschaftlichem Unverständnis noch frigider Kameradschaft abfinden will, bin ich allein. Oder: Ich muss jemanden finden, der mich noch tiefer verletzen kann.

 

Was böse klingen mag, ist in seiner Konsequenz bittersüße Wahrheit und eröffnet neuen Lebensraum: Mögen unsere Narben sich verlieben (Galway Kinell). Ratgeber scheuen es normalerweise, ihre Kunden mit derartiger Konsequenz zu frappieren. „Du bist frei und dadurch bist Du verloren“ schrieb Franz Kafka und Boyd zitiert diesen Satz in einem Kanon von Zitaten und Aphorismen. „Freiheit ist, wie wir mit dem umgehen, was uns widerfährt“ (Jean-Paul Sartre).

 

Es geht in diesem Buch um eine Art ironischen Glauben, dessen Entstehung dieser zum großen Teil Kierkegaard verdankt. Auch ein Artikel aus der New York Times mit dem viel sagenden Titel „No Kidding: Does Irony Illuminate Or Corrupt?“ von Charles McGrath war für Boyd hilfreich beim Verfassen seines Abrisses. Bonhoeffer, Wilde, Woody Allen, Nietzsche, Kafka, Wittgenstein, Camus, Sartre, Existenzialpsychologen wie Frankl, Fromm und R.D. Laing sowie die Lehren des Buddhismus und Marxismus sowie Aussprüche von Gandhi, Jesus und Sid Vicious ... hier laufen alle auf, um das Festival des großen Paradoxons L-e-b-e-n / N-e-b-e-l zur Blüte zu bringen.

 

Manch kurz geschlossene, nicht wirklich auf den Punkt gebrachte (Schein-)Konklusion wird in Boyds täglicher Heimsuchung auch phrasiert und gedroschen. Das zerstört die Idylle leider und unterbricht den Vorgang der Begeisterung an manchen Stellen. Manche Deutung bleibt hinter dem Durchdringen des gordischen Knotens der Vertracktheiten zurück, manche zerschlägt das Eis in uns mit einer Axt (um Franz Kafka zu bemühen). „Doch wie ich mich auch in mich selber neige: Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe von hundert Wurzeln welche schweigsam trinken“ (Rainer Maria Rilke).

 

Dieses Buch ist heilsam, weil sein Ziel nicht die Erlösung ist, sondern die Zerstörung der Illusion von Erlösung. Das ist gesünder als der gesamte Humanismus, der die Menschheit unter einen unglaublichen Leistungsdruck gestellt hat, eine Norm erfüllen zu müssen, die die Dimensionen des Menschseins aufs Unmenschlichste reduziert. „Das Erlangen von Erleuchtung ... ist die letztendliche, die endgültige Enttäuschung“ (Tschögyam Trungpa).

 

Es geht also um die totale Desillusionierung. Nur die kann Kraft geben für den oder die Nächste und / oder die nächste Katastrophe. In welcher Form auch immer. Und das ist nicht einmal zynisch gemeint. Wer sechs oder zehn ist und ein Poesiealbum mit echten Weisheiten bestücken will, kann sich hier reichlich bedienen („Nichts wirkt stärker auf Kinder als das ungelebte Leben der Eltern“ – C. G. Jung). Wer sechzig oder hundert ist findet mit diesen Sprüchen Anklang bei Zeitreisenden und Altersheimgeführten. Und für die Midagers finden sich hier ohnehin Zitier-Gelegenheiten bei Liebesdienst-Verweigerungen, Betriebsfesten und Fahrkartenkontrollen. Das Einzige, was einem nach diesem Ratgeber weiterhilft, ist Demut.

 

Carsten Klook (amused & troubled)

 

Andrew Boyd: Tägliche Heimsuchung, S. Fischer 2004

 

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