17. Dezember 2004

Ablenkungsmanöver

 

Ich muss das Geheimnis mit dem Messer öffnen wie einen Bauch, muss es ergründen, selbst wenn sich dadurch rein gar nichts ändern wird.“ Nein, ändern kann der Erzähler wahrlich nichts mehr. Dafür ist es längst zu spät. Denn wovon er berichtet, das ist mehr als 20 Jahre vor Niederschrift geschehen. Ein Mord, ein Selbstmord und ein Kindsmord in einem Ort im Osten Frankreichs im Jahre 1917. Doch dass das Geheimnis gelüftet würde, das kann man nach der Lektüre von Philippe Claudels „Die grauen Seelen“ auch nicht behaupten. Zumindest der Mordfall, die „Affäre“, so die offizielle Bezeichnung, bleibt bis zuletzt ungeklärt, wie es sich für ein echtes Grau-in-Grau-Gemälde ziemt.

 

In V. hat jeder was auf dem Kerbholz. Die einen stellen ihre Grausamkeit skrupellos offen zur Schau. Wie der Richter, der im Angesicht der Leiche gekochte Eier mit dem Silberhämmerchen köpft, oder der Staatsanwalt, der nicht ohne Ehrfurcht von der Bevölkerung „Bluttrinker“ genannt wird. Die anderen verschweigen ihre Schwächen und Vergehen zu Lebzeiten. Von ihnen erfahren wir nun aber im Nachhinein, dass es sich auch bei ihnen nicht um fromme Lämmchen handelte.

 

Der durch seinen Polizeidienst privilegierte Berichterstatter führt uns durch das Städtchen, vom Gerichtssaal zum Tatort, in Gaststätten, Gärten und Wohnstuben. Von der nah gelegenen Front dringen Nachrichten und Verwundete in die noch scheinbar zivilisierte Welt. „Natürlich hörten wir den Krieg. Aber im Grunde taten wir nur so als ob, arrangierten uns mit ihm, so wie man es mit schlechten Träumen und Erinnerungen macht. Er war kein wirklicher Teil unserer Welt. Es war wie im Kino.“

 

Wie im Kino? So viel man der Idee Claudels abgewinnen kann, eine Kriminal- und Sittengeschichte mit dem Weltereignis Krieg zu kontrastieren. In den Vergleichen treibt der Autor es dann doch nicht grau, sondern zu bunt. Da soll sich im Krieg „ein Gleichgewicht zwischen unseren verdorbenen Wünschen und der Wirklichkeit“ herstellen. Das richtige Verbrechen wird ersehnt, in „Kriegszeiten, in denen alle Mörder in Zivil Pause machten, um sich in Uniform noch eifriger an die Arbeit zu begeben.“ Und die zur Front marschierenden mobil Gemachten „lächelten in Erwartung des Unbekannten. In ihren Augen glänzte noch ihr früheres Leben. Nur der Himmel blieb weiter rein und heiter, er wusste nichts von der Verwesung, von dem Grauen, das sich über die Erde ausbreitete, unter seinem bestirnten Bogen.“

 

Derlei Stellen findet man zuhauf und doch stören sie kaum. Es gibt ja noch den Fall. Und nur zwei Arten, einen Mord aufzuklären. Entweder man verhaftet den Täter, oder man verhaftet jemanden, von dem man behauptet, er sei der Täter. Letzteres ist wohl die beste Lösung. Und dem verurteilten Deserteur drohte ohnehin die Todesstrafe.

 

Plagte den Erzähler nicht sein schlechtes Gewissen wegen eines anderen Verbrechens, das er kurz zuvor an seinem eigenen Kind verübte, hätten wir von diesem Fall wohl nie etwas erfahren. So ist der Bericht, den er an seine verstorbene Frau schreibt, ein einziges Ablenkungsmanöver.

 

„Gute Menschen sterben schnell. Alle mögen sie, auch der Tod“, heißt es an einer Stelle des Romans. 20 Jahre zu spät ist der Polizist wohl doch noch ein guter Mensch geworden. Der Karabiner ist auseinander genommen, eingefettet, gereinigt, wieder zusammengesetzt, geladen. „Nun kann ich zu dir kommen“, sind seine letzten Worte.

 

Gustav Mechlenburg

 

Philippe Claudel: Die grauen Seelen, Rowohlt Verlag 2004. 240 S., 19,90 €

 

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