21. November 2004

Dummheit wird bestraft

 

Niemand weiß heute wirklich, wann die Jugend zuende ist. Wann sie beginnt, ist nach wie vor ziemlich klar. Aber wann ist endgültig Schluss? Man ist so alt, wie man sich fühlt? Das sind tröstende Worte, die man zu Menschen spricht, die definitiv und schon lange die Grenze überschritten haben und schon ganz dicht vor der anderen, definitiven Grenze stehen. Außerdem würde man den latenten oder aggressiven Rassismus sträflich übersehen, den die Jugend denen gegenüber zeigt, die sich ein bisschen zu offensiv anbiedern. Und doch gibt es keine fixen Grenzen. Graue Haare haben manche schon mit 17, von Geheimratsecken zu schweigen, Glatzen können heute auch nichts mehr zudecken, weil man sie nicht mehr trägt, die Orangenhaut bei den Damen, das Fältchen, das zur Falte wird, schon mit 22einhalb.

 

Es ist schön, dass sich der Schriftsteller Joachim Lottmann für den ratlosen Zeitgenossen auf den Weg gemacht hat, um sich ein bisschen in den Städten und Szenen umzusehen. Berlin, München, Berlin, Zürich, Wien, Berlin, das ist der Weg, den in diesem Roman der Autor Jojo L. zurücklegt. Der gute Mann (der so böse dann doch nicht ist, wie Rainald Goetz einmal sagte; wir gehen davon aus, dass in Popliteraturverhältnissen der „Autor“ mal nicht tot und im Text ziemlich präsent ist) ist immerhin schon 46, seine Freundin 36, sieht aber aus wie 28. Allein diese Minimalinformation spricht Bände. Die Jugend von heute drückt das Alter. Getrost lassen sich 10 Jahre mindestens abziehen. Die Leute haben dann zwar faktisch schon die Endmoränen der Jugend erreicht, aber irgendwie gelingt es ihnen, den Schein zu wahren; ohne dass man es selbst richtig weiß und merkt, ist man unbewusst ein perfekter physiognomischer Lügner. Natürlich sind in der wirklichen Wirklichkeit die Dinge unendlich komplizierter, aber die Generaltendenz des open end lässt sich nicht wegreden.

 

„Die Jugend von heute“ bei Lottmann ist allerdings sehr speziell, jeunesse dorée, haute volée, happy few. Es sind die Videoclipgesichter auf der anderen Seite der Scheibe, die Jojo ablichtet, superschöne, reiche, ungezwungene Leiber, die künstliches Licht bevorzugen und angetreten sind, jeden Reiz auszukosten, als wäre es der erste. Eigentlich will Jojo weg aus Berlin, dieser lieblosen Metropole. Aber da ist noch Elias, sein Neffe und Ziehsohn, den er sehr mag, der ihn in der Stadt hält. Elias ist ein kleiner Gott, und Elias führt Jojo ein in die Götterwelt der ewigen Jugend. Partys, schöne Frauen, sympathische dumme Frauen, Szene-Lords, Drogen, das Alphabet der Popliteratur wird hier noch mal aufpoliert und man liest es sehr gerne. Elias ist perfekt, und doch gibt es da eine Sache, die Onkel Jojo gar nicht gefällt. Der Junge fickt (hier: bohnert) zu wenig. Elias könnte der Superstar der Pornowelt sein, allein das interessiert ihn nicht. Elias und seine Gefolgschaft kuscheln gerne, Sex gibt es zwar auch, aber eher als eine Art gegenseitigen Behelfssexes. Die „Penetration“ bleibt im wahrsten Sinne außen vor. Das treibt den Onkel fast in den Wahnsinn. Er macht alles mit, Partys, Drogen, aber da Jojo eine Freundin hat, April, lässt er sich auf nichts ein. Im zweiten Teil geht die Sache in München weiter, wo die Bande, vor allem Jojo, bis an den Rand des Nerven- und Körperzusammenbruchs und darüber hinaus abfeiert. Außerdem darf der Leser dabei zusehen, wie bei Langhansens Weihnachten begangen wird, das ist der Rainer von der legendären Kommune 1 mit freiem Sex und allem.

 

Wien dagegen bietet Generalparoli. Hier sehen auch die jungen Leute schon richtig alt aus. Thomas Bernhard lässt grüßen mit seinen Generalabrechnungen. Aber Romane können gar nicht jung genug sein, dass die Wirklichkeit – hier der frisch nobilitierte „Jelinek-Staat“ – sie nicht alt aussehen lässt. Egal, Österreich ist also ziemlich öde und polizeistaatlich, umso lieber kehrt man wieder nach Berlin zurück. Jojo hat auch wieder richtig Lust, seinen Neffen zu sehen, allein niemand weiß, wo Elias steckt. Irgendwo in Spanien, aber wahrscheinlich sind unglückliche Umstände zusammengekommen: der Terroranschlag auf den Nahverkehrszug am 11.3. diesen Jahres und die Tatsache, dass Elias danach vergessen hat, sein Osama-Bin-Laden-T-Shirt zu wechseln. Festnahme, Verhör, Tatverdächtiger. In Berlin marschiert Jojo von „Pontius zu Pilatus“, aber niemand scheint zuständig, die Sache scheint zu heiß. Dann eine grandiose Szene mit einem Beamten, die sich ganz wunderbar verfilmen ließe (im Grunde natürlich das ganze Buch), Reizworte fallen, „Kuba“, „Guantanamo“, man ahnt Schlimmes. Und man denkt an das Ende eines anderen, ganz wunderbaren Buchs, an „1979“ von Christian Kracht: Hier wird unmissverständlich Reverenz bezeugt. Zudem liefert der Autor, Lottmann, unübersehbare Hinweise, dass die Jugend jetzt tatsächlich vorbei ist. Man hat es einfach nicht mitbekommen.

 

Dieter Wenk (11.04)

 

Joachim Lottmann, Die Jugend von heute. Roman, Köln 2004 (Kiepenheuer &Witsch)

 

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