19. November 2004

Gleichheit tut nur weh

 

Dieser Roman bietet zwei Möglichkeiten an, in eine Diskussion einzusteigen. Die eine ist thematischer Natur und wird um die Frage der Genetik geführt werden. Man wird dem „Doppelgänger“ nicht Unrecht tun, wenn man sagt, dass er zu dieser Frage nichts beizutragen hat. Reiner Anstoß. Indem er eine Denkbarkeit auf die Spitze treibt. Das führt zu der zweiten Option, nämlich der Frage, was die Einführung und Behandlung des Unmöglichen als modaler Kategorie in der Literatur zu suchen hat. Der Doppelgänger Dostojewskis ist immerhin Alkoholiker. Romantische Doppelgängerei, so der erste Eindruck, interessiert Saramago aber auch nicht. Vielleicht muss man diesen Doppelgänger wie eine naturwissenschaftliche Versuchsanordnung im literarischen Gewand lesen. Die Leitfrage könnte lauten: Versuche herauszufinden, wie jemand reagiert, der bemerkt, dass es jemanden gibt, der genauso aussieht wie er selbst. Die Betonung liegt dabei auf „genauso“. Die Versuchsperson ist ein Geschichtslehrer mit dem pompösen Namen Tertuliano Máximo Afonso, der gerade dabei ist, sich von seiner Freundin Maria zu trennen, aber das irgendwie nicht schafft. Aus dem lauteren Motiv, sich von sich selbst abzulenken, schaut er sich einen Videofilm an und entdeckt dabei, dass ein Nebenschauspieler genauso aussieht wie er selbst. Er schaut sich weitere Filme der gleichen Produktionsfirma an und muss erkennen: Es gibt da ein perfektes Double von mir. Behauptungen dieser Art lassen sich nicht einfach vergessen. Man kann sie nicht ignorieren. Die Geschichte schreibt sich also wie von selbst weiter. Natürlich versucht T.M.A. seinen Doppelgänger kennen zu lernen. An einem diskreten Ort kommt es zu einer Gegenüberstellung. Abgesehen vom Innenleben ist wirklich alles gleich, einschließlich der primären Geschlechtsmerkmale. Von diesem Punkt ab schreibt sich die Geschichte nicht mehr wie von selbst. Die Zeit drängt, man ist schon fast auf Seite 300 von 380. Das Gemächliche, um nicht zu sagen Penible, auf jeden Fall aber Umständliche des allwissenden Erzählers dankt ab, es kommt die Zeit des Schließens, und die ist turbulent. Da es für die Begegnung zweier Personen, die sich äußerlich absolut gleichen, in der Wirklichkeit noch keine empirischen Daten gibt, kann sich der Erzähler den Luxus erlauben, eine beispielhafte Situation zu erfinden, die gleichwohl an die altbekannten Muster wie Liebe, Hass, Bewunderung etc. gebunden bleibt. Der Erzähler entscheidet sich also dafür zu sagen: Absolute Identität schafft nur Ärger. Wobei immerhin daran erinnert sei, dass die absolute Identität sich nur auf den Körper bezieht. Der Geschichtslehrer etwa traut sich nicht, seiner Freundin von seiner Entdeckung zu erzählen. Und die Frau des Schauspielers, die ein bisschen von den Anfangsgründen der fatalen Gleichheit erfährt, soll nach Angaben des Gatten dadurch sogar ganz konfus geworden sein. Aber darum – um psychologische Durchspielereien – geht es in diesem Roman nicht. Es geht einzig und allein um einen „unheimlich starken Abgang“. Die Psychologie bleibt dabei auf der Strecke. Winzige Details wie falsche Schnurrbärte bekommen die motivische Oberhand, aber vielleicht liegt darin ja die wahre Psychologie. Auf jeden Fall ist der Leser dann doch in Null komma nichts in einer Shakespear’schen Verweckslungstragödie angelangt, und eine Pointe ganz zum Schluss gibt es auch noch. Die Naturwissenschaft ist am Ende noch nicht einmal mehr Sciencefiction. Am Schluss wartet ein Knalleffekt, und das Beste, was er in die Luft jagen kann, ist der Moderationstisch, an dem gerade der Genetiker, der Ethikkommissar und der Literaturwissenschaftler als Medizinmann Platz nehmen wollen.

 

Dieter Wenk (11.04)

 

José Saramago, Der Doppelgänger. Roman, übersetzt von Marianne Gareis, Reinbek bei Hamburg 2004 (rowohlt)

 

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