14. November 2004

Eiskalt erwischt

 

Wenn das Delirium in die Literatur einzieht und mal wieder gezeigt werden soll, wie nah doch Dichtung und Wahnsinn beieinander liegen, dann wird es anstrengend für den Leser. Das Wort weniger im Sinn von Mühsal als von auf die Nerven gehen verstanden. Ein gewisses hysterisches Zucken macht sich bemerkbar, es gibt kein (Buch)Halten mehr und zack! ist das Buch zu. Dabei sind die Seiten 16 bis 47 ganz vielversprechend. Schöne Stimmungsmalerei. Ein Sylvesterfest wird vorbereitet. Ein Kälteeinbruch steht bevor. Was wird auf der Insel passieren, auf der das Fest stattfindet? Was hat es mit dem ungleichen Stiefbrüderpaar auf sich, dem Nabob und dem Irrenarzt? Märchenfäden werden gesponnen. Man denkt vielleicht an Hinterglasmalerei.

 

Und dann kommen diese unsäglichen Details. Diese Unterhaltungen à la Alice, nur gespiegelt im frei schwebenden Exemplar eines Hühnerauges. Natürlich konfrontiert einen Literatur immer mit Dingen, von denen man eigentlich gar nicht weiß, dass man sie wissen will, aber hier weiß man sehr genau, dass man das meiste in der Tat nicht wissen will. Dabei geht es in diesem Buch selbstverständlich nicht um Information, sondern um eine Art Zwischenbereich zwischen Poesie und Verrücktsein, ein l’art pour l’art des Aparté. Welche Farbe die Schnürsenkel von Engeln haben. Und welche Flinte sich die russische Baronesse, die böse Fee des Märchens, zum Jagen aussuchen wird. Die Schwermut des Irrenarztes, der mit seinem Manuskript kämpft. Man könnte fast von einer pointillistischen Technik des Buchs sprechen, das Nebeneinandersetzen von Heterogenem übertupft Erzählflächen. Ein Schluckaufbuch, denn anders als in der Malerei muss man in das Buch, dicht vor der Nase, hineinschauen. Und doch tut sich kein Abgrund auf. Der atmosphärische Aufbau des Anfangs verfängt sich in Silben. Trotz leichter Tupfer ist der Roman zäh wie Leder.

 

Für den idealen Leser dürfte das kein Problem sein, für den realen schon. Denn irgendwie ist das Thema von Dichtung und Wahnsinn (auch wenn das Buch in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts spielt) ja auch nicht mehr so prickelnd, dass man sich neue Erkenntnisse versprechen dürfte. Entweder man gehört zu denen, die sagen, dass die „Irren wirklich irr“ sind, oder man macht’s nicht so trennscharf. Schlimm wird es nur, wenn die Märchensauce der Polarität einen so versöhnlerischen Beigeschmack gibt. Aber am Ende des Buchs steht doch eine Katastrophe! Das ist das Problem. Die Katastrophe nimmt man schon gar nicht mehr als solche wahr. Mit dem Divisionismus kann man keine Tragödie produzieren. Der überlange Atem der Festvorbereitung mit seinen tausend Kemenaten lässt am Ende das Feuer nicht angehen. Der Esel auf dem Glatteis ist ein schönes Bild für dies Versagen. Schade, dass sich dieser Roman so verzettelt. Sein Traum macht, gerade wegen der vielen Unterschiede, zuletzt keinen Unterschied.

 

Dieter Wenk (11.04)

 

Liane Dirks, Narren des Glücks. Roman, Köln 2004 (Kiepenheuer & Witsch) 

 

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