10. November 2004

Das Unbewusste vor der Psychoanalyse

 

Der Biografismus klebt an der Psychoanalyse wie an Ödipus das delphische Orakel, er, Ödipus, bringe seinen Vater um und heirate seine Mutter. Und da man es mit einem Zweikomponentenkleber zu tun hat, meint, wer Biografismus sagt, zugleich Ödipus. Dem Interpreten des psychoanalytisch Unbewussten ist es gleich, woher er sein Material nimmt, ob aus der guten Stube des Behandlungszimmers oder aus Gedrucktem, sei es Schwarz auf Weiß, künstlerisch oder anders geformt. Die Form spielt zuletzt keine Rolle, allein der Inhalt zählt.

 

Jacques Rancière, emeritierter Professor der Philosophie, studierte u.a. bei Louis Althusser, gehört zu denjenigen, die mit dieser Reduktion unzufrieden sind. Er macht darauf aufmerksam, dass die Gestaltung von Stoffen (auch und gerade der Ödipus-Geschichte) eine Eigenlogik entwickelt, die das Tabuthema des Inzests bequem links liegen lassen kann. Was etwa Corneille an Sophokles stört, ist nicht der Vatermord und der Beischlaf mit der Mutter, sondern dass Ödipus einen ganzen Akt lang (in „König Ödipus“) sich die Augen auszustechen versucht. Das kann man den Damen am Hof nicht zumuten. Rancière geht es aber nicht um eine billige Abservierung der Psychoanalyse als vielmehr darum zu zeigen, wie es im Anschluss an die einschlägigen Arbeiten von Baumgarten und Kant zu einem eigenständigen Bereich des „Ästhetischen“ kommen konnte, das Rancière an einer Stelle beschreibt als ein „Denken dessen, das nicht denkt“. Schopenhauers Apotheose der Kunst oder Nietzsches Feier des Dionysischen zeigen, dass eine analytische Vernunft hier nichts zu melden hat. Die Revolution der Kunst ist genau der Weg von der klassischen Regelpoetik hin zum ästhetisch Unbewussten. Schon Novalis’ Naturmystizismus machte die Natur zu einem sprechenden Wesen, das aber nicht zu interpretieren war, da sich der Prozess der gegenseitigen Verweisungen nicht beenden ließ. Die Lektüre geht immer weiter, das ist der Sinn. Der Zwang entfällt, das „signifikative“ Detail in einen übergeordneten Rahmen der Repräsentation zu überführen im Sinne des Beerdigens, also Kaltstellens. Das Detail als ästhetisch Unbewusstes emanzipiert sich und bezeugt, dass die Kunst von Bereichen zu „reden“ vermag, die unreduzierbar sind und gerade in dieser Freistellung nihilistisches Potential bergen. Schopenhauers Wille hat keinen Sinn ebenso wenig wie Nietzsches Tragödie, die vielmehr auf einen sinnlosen Seinsmodus verweisen.

 

Die Pointe von Rancières Aufsatz liegt nun darin, dass sich ein solcher nihilistischer Zug auch bei Freud finden lässt, namentlich in der 1920 veröffentlichten Schrift „Jenseits des Lustprinzips“, in der Freud erstmalig seine Überlegungen zum Todestrieb systematisch vorlegt, die das praktikable Duo Realitäts- und Lustprinzip über den Haufen werfen. Das heißt, dass Freud auf theoretischer Ebene weit konsequenter verfuhr als in seinen Betrachtungen zu künstlerischen Elaborationen, die für ihn bloßes Material seiner schlichten Hermeneutik blieben. Was Rancière allerdings nicht mehr thematisiert: Auch der Todestrieb, der Nihilismus, lassen sich psychoanalytisch instrumentalisieren – und dann hat man einfach einen Würfel mehr im Spiel. Dass aber der Nihilismus selbst nur eine Übergangszeit wie andere auch darstellen, müsste auch das ästhetisch Unbewusste affizieren. Von hier fallen dann Überlegungen zu Kunst und Ornament an, Verbrecher gibt es dann allerdings nicht mehr.

 

Dieter Wenk (11.04)

 

Jacques Rancière, Linconscient esthétique, Paris 2001 (Galilée)