6. November 2004

Fucking Blue Shame

 

Literaturkritiker haben es schwer. Die Kriterien zur Beurteilung von Literatur sind aufgeweicht, seitdem das Bildungsbürgertum nicht mehr Alleinherrscher über die Feuilletons ist. Zeitgeist und Leselust beherrschen die Medien. Da gibt auf, wer nicht mitspielt. Doch Rettung naht. Hans-Dieter Gelfert hat die Lösung gefunden und teilt sie auch noch jedem mit, der 12,90 Euro investieren möchte. „Was ist gute Literatur?“ ist der Titel seines Buchs, und darin hat der Anglistikprofessor a. D. 13 Kriterien aufgelistet, die hier nicht verschwiegen werden sollen: Vollkommenheit / Stimmigkeit / Expressivität / Welthaltigkeit / Allgemeingültigkeit / Interessantheit / Originalität / Komplexität / Ambiguität / Authentizität / Widerständigkeit / Grenzüberschreitung und „das gewisse Etwas“.

Also, den Kaffee auf den Tisch, den Laptop angeschmissen und auf zur ersten Buchbesprechung, die auf fundierten Kriterien beruht. Und, Mist, schon gleich das erste Buch, zu dem man greift, scheint falsch. Henning Ahrens: „Der langsame Walzer“. Hier findet sich nun tatsächlich alles, was einem Gelfert zur positiven Beurteilung eines Buchs vorschlägt. Doch so recht mag man der Güte des Romans nicht trauen. Auch wenn alle Voraussetzungen aus Gelfterts Katalog hier zutreffen. Ein weiteres Kriterium fehlt anscheinend in seiner Liste: das Maß.

Denn bei Ahrens ist alles super, nur einfach viel zu viel. Zu lang und zu intensiv. Lyrik durch und durch. Und es ist wohl kein Wunder, dass Gedichte sonst üblicherweise keine 318 Seiten umfassen. Zudem muss man das Thema auch noch mögen. Ein Krieg in Europa in nicht allzu ferner Zukunft und Siencefiction-übliche Rassismen mit lauter Verweisen auf Comic-, Film-, Duden- und Bibelkultur. Keine Charaktere, nur Abziehbilder, Stereotype, die man von irgendwoher kennt. Und sei es aus dem Kinderzimmer. Nichts für zimperliche Naturen. Vergewaltigungen und Kanibalismus stehen auf der Tagesordnung. Und das Ganze vor allem vollkommen sinnlos. Das heißt, voller Sinn, aber verborgen in einem Rucksack, den die Protagonisten heilsversprechend durch die Winterlandschaft schleppen, oder versteckt in Büchern, die erst nach einem Krieg wieder wichtig werden.

Das alles präsentiert Ahrens in postmodernem Stil. Der Erzähler Schadhorst, engagiert von Soldaten als Ghostwriter ihrer Geschichte, mischt sich anfangs noch ein, wird aber bald zur dritten Person degradiert, und andere Stimmen treten hinzu. Die Szenen sind schnell geschnitten und so kompliziert miteinander verschachtelt, dass man sich den Plot dann doch lieber gleich als Film wünscht, bei dem man sich passiv in den Sessel verdrückt. Kommt man schließlich raus aus dem Romanstreifen, bleibt nichts zurück außer der Erkenntnis, einen großen, selbstgefälligen Autor gelesen zu haben, der nur mal zeigen wollte, wie dumm man als Kritiker mit Kriterien á la Gelftert dastehen kann.

 

Henning Ahrens: Langsamer Walzer. S. Fischer Verlag 2004, 318 Seiten, 18,90 €

 

Hans-Dieter Gelfert: Was ist gute Literatur? Beck'sche Reihe, 220 Seiten, 12,90 €

 

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