31. Oktober 2004

Schätze (ungehobene)

 

„Je höher ein Wert geartet ist, desto mehr bleibt es selbst in flüchtigster Berührung seines Sinns noch übersetzbar. Dies gilt selbstverständlich nur von Originalen.“ Angesichts von Walter Benjamins Diktum weiß man nicht so recht, wie man den Trend der letzten Jahre, Bücher in ihrer Originalsprache zu lesen, deuten soll. Die Abteilung der englischsprachigen Bücher in den Buchhandlungen sind jedenfalls mittlerweile zu eigenständigen „Bookstores“ ausgewachsen; und zuletzt wurden sogar schon Steppkes gesichtet, die nur mit Mühe den neuesten „Harry Potter“ – natürlich auf Englisch – mit beiden Händen zur Kasse trugen, obwohl man berechtigte Zweifel daran haben konnte, dass sie überhaupt der englischen Sprache mächtig sind.

 

Dieser Trend, „back to the roots“ und damit hin zum vor allem englischsprachigen Original, mag vielerlei Gründe haben – der Plausibelste ist der, dass wir in den letzten Jahren nicht nur das Phänomen „Harry Potter“ erlebten, sondern auch eine Generation von jungen US-Schriftstellern, neben denen ihre gleichaltrigen deutschsprachigen (und europäischen) Kollegen tatsächlich alt aussahen. Angefangen bei Jonathan Franzen über David Foster Wallace, Jeffrey Eugenides bis zuletzt Richard Powers. Voraussetzung für die Übersetzbarkeit und den Erfolg ihrer Bücher war eine schon fast unverschämte Lust am Erzählen gewesen, ein Spaß am Fantasieren bei einem höchst lesbaren, aber sehr eigenen und daher unverwechselbaren Stil. Trotz des guten Geschäfts, das die jeweils neueste Entdeckung aus der Reihe dieser „jungen Wilden“ verspricht, wie sie einmal von „Literaturen“ genannt wurden, gibt es immer noch einige US-Erzähler aus dieser Generation, die von den Verlagen hierzulande vergessen worden zu sein scheinen.

 

Warum so spektakulär gute Bücher wie „House of Leaves“ (2000) von Mark Z. Danielewski oder „Notable American Women“ (2002) von Ben Marcus (um nur einige zu nennen) nach Besprechungen in der „FAZ“ und Auszügen in den „Schreibheften“ seit Jahren herumgereicht werden, sich aber bisher kein deutscher Verlag für sie erwärmen konnte, wird nach Anfrage von den Lektoren stets mit dem Verweis auf den experimentellen Charakter und damit mangelnde Verkäuflichkeit gerechtfertigt. Dass diese Rechnung, „experimentell = für den Durchschnittsleser zu mühsam = unrentabel hoch zwei“ nicht stimmt, beweisen nicht nur im Fall Danielewski die Verkaufszahlen in angelsächsischen Ländern, sondern auch die Übersetzungen der Romane, zum Beispiel ins Französische.

 

Was sind das also für Bücher, die von deutschen Lektoren mit gleichermaßen begehrendem wie angstvollem Blick angesehen werden, unter dem Motto: „Ich würde so gerne, aber mir sind da die Hände gebunden.“

 

Der herausragendste Schatz, den es bei uns noch zu entdecken gilt, ist Mark Z. Danielewskis „House of Leaves“. Experimentell bis zum Anschlag, voll gestopft mit Ködern für Literaturwissenschaftler, die in Dekonstruktion und Debatten der aktuellen Medientheorie verliebt sind, und dabei doch so spannend und unterhaltsam wie ein Stephen King. Der Vergleich kommt nicht von ungefähr, denn einer der vielen Handlungsstränge erinnert tatsächlich an einen Fantasy-Horror-Roman; vielleicht auch ein wenig an das „Blair-Witch-Project“, das ungefähr zeitgleich mit dem Erscheinen des Buchs in die Kinos kam: Es ist in erster Linie die Geschichte eines merkwürdigen Filmprojekts. Der Dokumentarfilmer Navidson zieht mit seiner Familie in ein einsames Landhaus in den USA. Er entdeckt eine Tür, die in eine Art Unterwelt führt, einen pechschwarzen Keller, der noch dazu Tag für Tag um neue Räume und Zimmer anzuwachsen scheint. Navidson beschließt, zusammen mit einigen Freunden einen Film über den seltsamen Keller zu drehen. Was folgt, ist die Geschichte der Expedition in die Kellerräume, eine Expedition, die – natürlich – mit einem blutigen Streit zwischen den Freunden und dem Verirren in dem unterirdischen Labyrinth böse endet. So far, so good. Eben dieses Manuskript, das – für jeden, der sich mit Intermedialität beschäftigt, ein gefundenes Fressen – ausschließlich die im Haus und im Keller aufgenommenen Filme des Regisseurs beschreibt, ist angeblich von einem alten blinden Mann namens Zampanò, mit Fußnoten versehen worden, die zwar allesamt höchst akademisch daherkommen, dabei aber oft auf rein fiktive Sekundärliteratur verweisen. Eben dieses mit Fußnoten versehenes Manuskript wird wiederum von einem Lebenskünstler mit dem schönen Namen Johnny Truant gefunden, der beschließt, neue Fußnoten hinzuzufügen, in denen er die Geschichte seines Lebens schildert. Dazu findet sich im Anhang eine Sammlung von Gedichten Truants, angeblich authentischen Fotos und Zeichnungen Navidsons etc. etc. Die Gattung der Herausgeberfiktion erhält hier, in einem Buch, das zusammen von King, Borges und Nabokov verfasst worden zu sein scheint, eine vollkommen neue Dimension. Zusätzlich zu dieser inhaltichen Verschachtelung – und hier liegt wahrscheinlich der verlegerische Schrecken des Buches – vollzieht der Text dann auch noch die Wahnsinnszustände des im Keller gefangenen Regisseurs nach der Art Raymond Federmans typografisch nach – mit chaotisch über die Seiten verstreuten Buchstaben oder mit zu einem Labyrinth geformten Sätzen. „House of Leaves“: Eine polyphone Fuge, eine Herausforderung für alle Sinne, ein Buch – um den Slogan für den neuen und leider sehr dürftigen Eco zu verwenden, der wohl etwas Ähnliches vorhatte – wie es noch keines gegeben hat.

 

Was für Danielewski die Herausgeberfiktion ist, das ist für Ben Marcus der Lexikonroman. Zunächst ist in „Notable American Women“ von einem „Female Jesus“ namens Jane Dark die Rede. Eines Tages okkupiert sie mit ihrer rein aus weiblichen Mitgliedern bestehenden Sekte „The Silentist“ das Haus der Familie Marcus. Der Vater wird schnell in den Garten verbannt, der junge Sohn, zufälligerweise ein gewisser Ben Marcus, ist „alone at home“ mit den stets in weiß gekleideten Frauen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, jedes Geräusch zu vermeiden und die Welt in einen lautlosen Ort zu verwandeln. Der Junge stellt nun nicht nur eine Liste von Verhaltensregeln auf, wie der Zustand absoluter Stille herzustellen sei (z. B. sollen durch einen „noise filter“ sämtliche Radiowellen im Luftraum neutralsiert werden; jeder Satz soll in ein dämpfendes Stück Stoff gesprochen werden; um den Kopf als das Zentrum allen Übels zur Ruhe zu bringen, trage man stets einen Skihelm etc.); er präsentiert auch eine kleine Chronik der Sekte, begonnen bei der Jugend Jane Darks bis zu apokryphen Anekdoten von Mädchen, die durch Verrenkungen ihres Körpers vorbeifahrenden Zügen den Schall rauben können. In dieser Atmosphäre des latenten Masochismus und militanten Feminismus kommt es zudem zu einer der befremdlichsten Coming-of-age-Geschichten der jüngsten Literatur: Um den Fortbestand der Sekte zu sichern, wird Ben zum Begatter der Mitlgieder ernannt – bis sich herausstellt, dass er unfruchtbar ist. Schon in seinem ersten Buch, „The Age of Wire and String“, hat Ben Marcus explizit an Gertrude Steins „Tender Buttons“ angeknüpft und in Einträgen in ein fiktives Lexikon eine Parallelwelt geschaffen, in der scheinbar vertraute Wörter und Ausdrücke, einen vollkommen neuen, oft surrealen Sinn erhalten. In „Notable American Women“ verbindet sich Ben Marcus’ außergewöhnliche Sprache nun mit einem Plot, dessen bedrückende und ungemein dichte Atmosphäre seltsam symptomatisch erscheint für den momentanen Zustand der Paranoia und Traumatisierung der USA.

 

Danielewski und Marcus. Liest man ihre Bücher, dann bestätigt sich nicht nur der Eindruck, dass die erzählerisch und stilistisch innovativsten Texte heutzutage von einer jungen Generation von US-Autoren stammen, die zudem allesamt – letztlich auch über Dave Eggers „McSweeney’s“-Magazin – in freundschaftlichem Kontakt zueinander stehen; sondern man kommt auch zu dem etwas zermürbenden Schluss, dass es im deutschsprachigen Raum keinen Erzähler derselben Generation gibt, der hier auch nur annähernd mithalten könnte. Die Übersetzung von „House of Leaves“ und „Notable American Women“ empfiehlt sich also einerseits, weil es sich hier um Romane handelt, bei denen angesichts ihres Anspruchs vielleicht selbst der Hobby-native-speaker aufgeben wird, die aber ein größeres Publikum verdient hätten und bei diesem sehr wohl auch reüssieren könnten. Andererseits bestände Hoffnung, dass durch ihre Übersetzung auch die schreibenden Kollegen hierzulande, endlich ein bisschen mehr Mut aufbringen, den Mut, einmal keinen Roman zu schreiben, der lediglich aus – vom Feuilleton dann stets gelobten – „genauen“, aber trotzdem leider stets ähnlichen Beobachtungen über die bundesdeutsche Gegenwart besteht oder den x-ten peinlichen Versuch darstellt, nach dem unerreichten Christian Kracht das Pop-Genre doch noch zu reanimieren. Und Mut ist auch bei den Verlagen gefragt, einmal nicht auf Bücher zu setzen, deren Verfallsdatum spätestens beim nächsten „erstaunlichsten Debüt dieses Jahres“ abgelaufen ist, sondern die einen ziemlich zeitlosen Grad an Originalität besitzen. Derartige „Originale“, traut man Benjamin, sollten sich ja dann auch recht gut übersetzen lassen ... ins Englische zum Beispiel ... eine Generation „junger wilder“ deutschsprachiger Autoren, das wäre doch mal was.

 

Thomas von Steinaecker

 

 

Ben Marcus: The Age of Wire and String. Stories. 1995

 

Ben Marcus: The Father Costume. With Photographs by Matthew Ritchie. 2002

 

Ben Marcus (Ed.): The Anchor Book of New American Short Stories. 2004

 

www.benmarcus.com

 

Danielewski

 

Marcus