20. Oktober 2004

Westen, Westen, Westen...

 

 

Auch wenn der „Krieg der Kulturen“ vom Pentagon – wohl auch aus Gründen mangelnder Eingrenzbarkeit – noch einmal abgesagt worden ist, hat sich im öffentlichen Diskurs doch die Rede vom Konflikt zwischen ‚westlicher Zivilisation’ und ‚islamischem Terrorismus’ festgesetzt. Das Problem an dieser Beschreibung ist allerdings, dass die Gegensatzpole in der Regel undefiniert bleiben. Hatte man schon bei der Kalten-Kriegs-Ordnung des 20. Jahrhunderts bisweilen Schwierigkeiten, das Demokratische am demokratischen beziehungsweise das Kommunistische am kommunistischen Lager im Konkreten nachzuweisen, so verschwimmen die Zuschreibungen heute vollends. Wofür stehen die Begriffe ‚islamischer Terrorismus’ und ‚der Westen’? Für betende Selbstmordattentäter (die gemeinerweise die Gestalt westlicher Lebemänner annehmen können) einerseits und säkulare McDonald’s-Konsumenten andererseits? Für mittelalterlich gekleidete Taliban-Jünger respektive die an Bewegungsmangel leidende okzidentale Gameboy-Jugend? Für Bin Laden auf der einen, Kant und Mickey Mouse auf der anderen Seite?

Was die eine Seite des Gegensatzes angeht, versucht der Kölner Autor Mostafa Danesch Licht ins Dunkel zu bringen. Daneschs wichtigstes Anliegen in „Der Krieg gegen den Westen“ besteht dabei darin, auf die Größe der herrschenden Gefahr hinzuweisen. Der islamistische Terror lasse sich nicht auf ein militantes Netzwerk namens Al Qaeda und schon gar nicht auf die Person Osama Bin Laden reduzieren. Hinter den Anschlägen stehe vielmehr eine sich als weltumspannend begreifende Bewegung des politischen Islams. Der Terrorismus sei von dieser Bewegung nicht zu trennen, er müsse als repräsentativer Ausdruck einer breiten religiösen Strömung begriffen werden.

Danesch erteilt kulturrelativistischen Konzepten in diesem Zusammenhang eine klare Absage. Der religiösen Durchdringung von Politik ist stets und überall Widerstand zu leisten; egal ob es sich bei den Protagonisten nun um den Opus Dei, israelische Siedler oder die Staatsmacht im Iran handelt. Gleichzeitig weist Danesch aber auch darauf hin, dass das Entstehen des islamistischen Fundamentalismus nur vor dem Hintergrund der (neo-)kolonialen Politik Europas und der USA zu begreifen ist. Die fortgesetzten Demütigungen der Gesellschaften im Mittleren und Nahen Osten und die militärische Unterbindung eigenständiger Entwicklungen – Stichwort: die von den USA und Großbritannien protegierten Putsche gegen die nationalistischen Regierungen Mossadegh im Iran 1953 und Ghasem im Irak 1963 – hätten der religiösen Bewegung das Terrain bereitet, die Unterstützung islamischer Kampfeinheiten gegen die sowjetischen Truppen in Afghanistan, schließlich in den 1980er Jahren die operative Grundlage für das geschaffen, was heute als Al Qaeda bezeichnet wird.

Bemerkenswerterweise bemüht sich Danesch bei dieser Darstellung darum, die Länder Afghanistan, Irak und Iran als Gesamtzusammenhang zu begreifen. Die Entwicklung in den drei Nachbarstaaten sei zwar nicht einheitlich, besäße aber eine ähnliche Dynamik und könnte in einem gemeinsamen Szenarium aufgehen. So unterschieden sich die neuen Machthaber in Afghanistan nur unwesentlich von den Taliban; das Land werde heute von Drogen-Lords und fundamentalistischen Kriegsherren kontrolliert, von denen manche mit der gestürzten Regierung, andere mit dem Iran liiert sind. Im Irak habe die Invasion die Lage ebenfalls eher verschärft, weil die Schiiten nun zur führenden Kraft aufstiegen und sich dabei zunehmend am Chomeini’schen Gottesstaat orientierten. Hinzu komme schließlich drittens die Tatsache, dass sich der Iran weniger als Nationalstaat, denn als Avantgarde einer weltweiten islamischen Bewegung begreife. Wenn in Deutschland so häufig von Reformansätzen in Teheran die Rede sei, so Danesch, habe dies mit Exportinteressen, nicht aber mit den Verhältnissen im Iran selbst zu tun.

In dieser Hinsicht sind Daneschs Ausführungen informativ und lesenswert. Doch ebenso gewichtig sind die Einwände: Das Buch, das auf unangenehme Weise populär daherkommt, wirkt unstrukturiert. Ständig wird zwischen Schauplätzen und Argumentationssträngen hin- und hergesprungen. Dass Danesch sich immer wieder für sachkundige Passagen beim Leser entschuldigt, ist nur ein Detail und doch charakteristisch für das Problem. Offensichtlich hat der Autor beziehungsweise sein Verlag der Wirkung fundierten Wissens misstraut. Stattdessen präsentiert sich „Der Krieg gegen den Westen“ als politische Beratungsschrift ohne klaren Adressaten. Und so geht es munter durcheinander: Mal haben „wir“ die Lage noch nicht ausreichend begriffen, dann „der Westen“ und einige Zeilen später wieder „sie“. Die Interventionspolitik von USA und EU wird kritisiert, dann aber doch wieder neue Interventionen gefordert. Die Hypokresien europäischer und US-amerikanischer Modernisierungsversprechen werden angeprangert, wenig später jedoch die üblichen Phrasen von „nation building“ und „Zivilgesellschaft“ nachgebetet.

 

Auch Jürgen Habermas spricht in der Aufsatz- und Interviewsammlung „Der gespaltene Westen“ über die Auseinandersetzung mit dem Islamismus, interessiert sich dabei aber vor allem für die andere, die ‚westliche’ Seite. Habermas’ Argumentationskette ließe sich dabei folgendermaßen zusammenfassen: Die US-Regierung unter George Bush verfolgt – nicht in erster Linie wegen des 11. Septembers, sondern aus konzeptionellen Gründen – eine Politik des rücksichtslosen Unilateralismus, der zuletzt zu zwei völkerrechtswidrigen Kriegen geführt hat. In Anbetracht dieser Entwicklung, die die moralische Autorität der USA und die internationale Rechtsordnung infrage stellt, sei es vonnöten, die USA zu einer Rückkehr zu ihrem nach den Weltkriegen praktizierten Internationalismus zu bewegen. Dies sei allerdings nur ein Schritt in Richtung eines globalen Bürgerrechts, das – im Unterschied zum klassischen Völkerrecht – nicht nur staatliche Akteure, sondern auch Bürger und Individuen kenne und schütze. Weil die Idee einer Weltrepublik, in der sich derartiges Verfassungsrecht etablieren ließe, utopisch und durchaus problematisch sei, müsse ein multilaterales, internationales Rechts- und Sicherheitsgebäude geschaffen werden. Dieses konstituiere sich in Form von UN-Institutionen, aber auch von kontinentalen Blöcken, innerhalb derer Bürgerrecht und -solidarität durchgesetzt würden. Die EU könne als beispielhaft für einen derartigen Block gelten.

Vor diesem Argumentationshintergrund begibt sich Habermas ins realpolitische Geschehen: Mit konkreten Vorschlägen macht er sich für die Vertiefung der europäischen Vereinigung stark. Nötig seien nicht nur die Verabschiedung einer Verfassung und eine gemeinsame Außenpolitik, sondern auch die Schaffung einer europäischen Identität, die nationalstaatliche Zuordnungen zwar nicht völlig aufhebe, aber doch für ein gemeinsames Bürgerbewusstsein sorge.

Im Grunde genommen macht sich Habermas mit seinem Plädoyer für ein multipolares, netzwerkartiges System des Regierens und Richtens auf internationaler Ebene für eine Form der Souveränität stark, die Negri/Hardt 2000 kritisch als ‚Empire’ beschrieben haben (wobei Habermas interessanterweise das Konzept Negris/Hardts ausdrücklich kritisiert, seine knappen Ausführungen jedoch den Eindruck erzeugen, er habe das Buch nicht wirklich gelesen).

Doch unabhängig von der Einschätzung, ob sich Habermas damit als Vordenker einer neuen imperialen Souveränität betätigt oder nicht, kann man gegen seine Schrift auf jeden Fall einwenden, dass die normative Setzung Europas vor Widersprüchen strotzt. So kritisiert Habermas etwa die US-Intervention in Afghanistan als fatalen Bruch des Völkerrechts, verteidigt aber die ihr vorhergehende Rechtsverletzung, den Krieg gegen den Kosovo, als sinnvoll. Die angeblich wachsende Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen und den damit zusammenhängenden Legitimitätsverlust despotischer Regierungen hebt er positiv hervor, verschweigt aber, dass UN-Berichte durchaus auch westeuropäische Sicherheitsorgane, beispielsweise etwa die spanische Polizei, regelmäßig der Folter bezichtigen, ohne dass das in den Medien auch nur wahrgenommen würde. Auch die Haftbedingungen in Guantánamo sind Habermas kritische Bemerkungen wert, nicht jedoch das auf Kriminalisierung von Einwanderern abzielende Grenzregime der EU, das mittlerweile alle zwei Jahre so viele Todesfälle verursacht wie die DDR-Grenzanlagen 1949 bis 89 zusammengezählt.

Man hat beim Lesen den Eindruck, ethisch sei für Habermas all das in Ordnung, woran sich Kerneuropa, oder noch spezifischer die rot-grüne Regierung, irgendwie beteiligt haben.

Dabei kann man Habermas sicherlich nicht vorwerfen, er würde derartige Einwände nicht kennen. Immer wieder spricht er von der Notwendigkeit, den ethnozentrischen Blick zu überwinden, weist auf die aufklärerische Tradition der USA hin und möchte eine Umgewichtung innerhalb der UNO zugunsten der weniger mächtigen Staaten. Doch diese Hinweise ändern nichts daran, dass er dann wenige Zeilen später Europa erneut als Norm setzt und damit für eine aufstrebende Hegemonialmacht wirbt. Eine Kritik der Verhältnisse findet bei Habermas nicht mehr statt, er beschränkt sich auf eine Art Politikberatung, die gleichermaßen idealistisch wie realpolitisch daherkommt und damit im besten Fall naiv, im schlechtesten zynisch wirken muss. Negri/Hardt – denen man sicherlich ebenfalls Einiges vorwerfen kann, unter anderem ihre messianische Ungenauigkeit – schreiben in ihrem neuen Buch „Multitude“, politische Theoretiker begäben sich heute bevorzugt von „den Fluren ihrer Universitäten zu den Schaltstellen der Macht, damit der Souverän ihnen sein Ohr leihen möge und sie ihm Ratschläge zuflüstern“ könnten. Habermas ist im Unterschied zu Huntington, auf denen sich das Zitat in erster Linie bezieht, weder ein Rassist noch ein Stichwortgeber militärischer Eskalation. Doch die Sehnsucht, Politik aus der Perspektive der Macht zu beschreiben und zu gestalten, scheint leider auch ihm nicht fremd.

 

Raul Zelik

 

Mostafa Danesch: Der Krieg gegen den Westen, Hoffmann und Campe 2004

 

Jürgen Habermas: Der gespaltene Westen, Suhrkamp 2004

 

Mostafa Danesch

 

Jürgen Habermas