20. Oktober 2004

Saure Trauben

 

Der Fuchs, der nicht an die über ihm hängenden Trauben herankommt, weist diese zurück, weil sie sowieso sauer seien. Soweit die antike Fabel Äsops, die Ressentiment aus Ohnmacht erklärt. Die Einführung des produktiven Ressentiments, um das es dem aktuellen „Merkur“-Doppelheft „Ressentiment! Zur Kritik der Kultur“ geht, reicht nun noch ein kleines Stück über diese Geschichte hinaus. Der Fuchs, aus Ärger über seine Position und die ihm eigentlich unwürdige, weil entlarvende Kommentierung der Trauben als nicht schmackhaft, wird jetzt wirklich sauer. Als hätte er sein Maul voll saurer Trauben, wird er durch die Säure scharfsinnig, spitz und geistreich, wie er es zuvor nie war. Das Ressentiment wird produktiv. Die Polemiken Nietzsches, Rousseaus und Karl Kraus’ sind Zeugnis für derartige Ergüsse.

 

Es ist die befreiende Schimpfkanonade, die für den Moment Klarheit zu produzieren scheint, über Wahrheit und Falschheit. Das ist oft komisch und nicht selten Geburtsstunde eines Missverständnisses, das selbst hoch produktiv wird und Kommentare und Gegenkommentare auf den Plan ruft, die ein Sommerloch spielend füllen und das Feuilleton zuverlässig mit Debatten versorgt.

 

Die Debatte, die vom neuen „Merkur“ angeregt werden will, versucht den Standpunkt des Meckerfritzen zu entkräften und die aus der Mode gekommene Haltung des Rühmens zu stärken. Jeder, der schon einmal ergriffen von Kunst, Literatur, Landschaft, Menschen oder Ähnlichem war, weiß aber, wie schwer es ist zu rühmen und zu loben, ohne in gefühlsduselige Schleimerei zu verfallen.

 

Um auf den Fuchs zurückzukommen, der müsste, um den Autoren zu gefallen, nun unter den Trauben stehen und, ohne sie gekostet zu haben, unausgesetzt davon sprechen, wie schön hoch sie hängen, wie wunderbar ihre bloße Existenz und wie gut es ist, dass nicht jeder davon essen kann.

 

Doch so recht will diese Umwertung nicht gelingen. Dass die rühmende Ansprache unser Misstrauen weckt und andererseits Gezeter unser Verständnis, weil die Position des Neidhammels von allen Neidhammeln nachvollzogen werden kann, ist nun einmal eine anthropologische Konstante. Man muss sich davon abgrenzen, was man nie bekommen kann, und das tut man am besten, indem man Ressentiments pflegt.

 

Die Art Heldenverehrung, wie sie zurzeit betrieben und eingeübt wird in Sendungen wie „Star Search“ oder von den entzückt kollabierenden Fans des Popgeschäfts, ist selbstverständlich nicht die Form des Rühmens, die den Autoren vorschwebt, denn ihre Position ist elitär und intellektuell bedenklich hirnverbrannt. Die Schreiber wollen die Leser aufklären über die unklare Ängstlichkeit der Deutschen gegenüber ihrem Staat und seinen Würden- und Kulturträgern. Der Mangel an Selbstbewusstsein, wie die Autoren mit nicht wenig Ressentiment behaupten, münde in heilloses Schimpfen, weil es keine Bereitschaft gäbe, Politiker und Sachzwänge zu akzeptieren.

 

Paradoxerweise gedeiht das Gejammer der Arbeitslosen und Sozialneider gerade im Zuge der Egalisierungsdynamik von Demokratien mit der Hervorbringung eines nivellierenden Mittelstands. Ökonomische Ungleichheit hat nichts mehr mit Ungerechtigkeit zu tun, sondern ist durch Leistung und Zufall legitimiert. Angesichts einer so utopielosen Lage haben die Autoren für Empörung und Aufbegehren Zukurzgekommener nur ein müdes Lächeln übrig.

 

Das derzeitige Ressentiment sei pubertär, einseitig, unsinnig und destruktiv. Die Aggression der Globalisierungsgegner beispielsweise springe von Bush zu den Delphinen, in die Gettos und von dort gegen die korrumpierte Linke. Ihre Ohnmacht verschaffe ihnen dabei scheinbar moralische Überlegenheit. Immerhin glauben diese Aktivisten aber noch an die Schmack- und Nahrhaftigkeit der Trauben, die nicht nur für sie zu hoch hängen, und verklären sie nicht künstlerisch zum exklusiven Kulturgut.

 

Gustav Mechlenburg

 

Merkur. Ressentiment! Zur Kritik der Kultur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 9/10, 58. Jahrgang. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004, 18 Euro

 

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