10. Oktober 2004

Absicht statt Erkenntnis

 

Vier Jahre ist es her, dass Toni Negri und Michael Hardt mit „Empire “ für eine breite, international geführte Debatte über die neue Weltordnung sorgten. Während sich die einen über Negris/Hardts euphorische Wiederaneignung des Kommunismus freuten, warfen andere ihnen Ungenauigkeit bis hin zum „theoretischen Skandal“ vor.

Jetzt ist mit „Multitude – Krieg und Demokratie im Empire“ der zweite Band des Negri-Hardt-Projeks erschienen. Maßgeblich beeinflusst vom italienischen Operaismus, der in den 1960er Jahren den Klassenkampf als Motor der Geschichte neu entdeckte und dabei der Arbeit stets die dynamische und kreative Seite zusprach, beschäftigen sich die beiden Autoren diesmal vor allem mit jener Subjektivität, die dem Empire (der neuen globalen Souveränität) gegenüber steht.

Negri/Hardt gehen davon aus, dass sich der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit in der Postmoderne in einem globalen Verhältnis ausdrückt. So beschreiben sie zwei sich gegenüberstehende Seiten: Als Empire definieren sie die netzwerkartige, über die Nationalstaaten hinausreichende (diese aber keineswegs aufhebende) Souveränität, die sich, von innerimperialen Konflikten immer wieder zurückgeworfen, seit dem Ende des Kalten Kriegs konstituiert. Ihr Widersacher, die Multitude, wird demgegenüber als jene (produktive) Menge verstanden, die im Empire lebt, es hervorbringt und gleichzeitig subversiv aufzuheben vermag. Im Unterschied zu den revolutionären Subjekten der Vergangenheit (‚Proletariat’, ‚Volk’ ...) lässt sich die Multitude nicht als homogener Körper begreifen. Sie besteht aus einem Netzwerk singulärer Subjektivitäten.

So weit hatten die Autoren schon in „Empire“ ihr Konzept dargelegt. Diesmal nun arbeiten sie den Charakter der diffusen, heterogenen Menge (den Begriff Multitude entleihen sie im Übrigen bei Spinoza) genauer heraus, betrachten dieses Subjekt vor dem Hintergrund des – von ihnen als „global“ beschriebenen – Kriegszustands und plädieren für eine radikale Aneignung des Demokratiebegriffs durch eben jene ‚Menge’.

 

Wenn man das Konzept der Multitude betrachtet, werden die grundlegenden Probleme schnell deutlich. Die Autoren formulieren zwar erneut den Anspruch, den Marxismus mit Foucault/Deleuze, feministischer Theorie und Kulturwissenschaften zu verbinden, letztlich bleibt ihre Methode jedoch im Kern operatistisch bestimmt. Bei der italienischen Strömung des ‚radikalen Arbeiterstandpunkts’ hängt (ebenso wie bei Marx) das Handlungspotenzial von Klassen stets mit ihrer Stellung innerhalb des Produktionsprozesses zusammen. Das Proletariat wird nicht zuletzt deshalb zum revolutionären Subjekt, weil es Quelle und Motor einer beeindruckenden ökonomischen Dynamik ist. Analog hierzu versuchen Negri/Hardt auch für die Multitude eine zentrale Stellung im ökonomischen Prozess nachzuweisen. Weil viele aus der ‚Menge der Armen’ aber nicht mehr in klassischen Produktionsverhältnissen stehen, wird die Gesellschaft als produktiver Gesamtkörper gefasst.

Die in den vergangenen Jahren so häufig durch die Debatten geisternden Begriffe ‚immaterielle Arbeit’ und ‚Bioproduktion’ haben hiermit zu tun. Unter ‚immaterieller Arbeit’ verstehen die Autoren zum einen das Erschaffen von nicht-quantifizierbaren Produkten (wie Wissen, kulturelle Produktion im Allgemeinen...), zum anderen affektive Handlungen, die „Erregung oder Leidenschaft hervorbringen“. Die Gemeinsamkeit dieser Arbeitsformen ist darin zu sehen, dass sie das Leben als solches produktiv machen: Wenn Programmierer in der Sauna miteinander diskutieren, stellen sie ebenso etwas her (nämlich Wissen), wie die Messe-Hostess, die den potenziellen Kunden anlächelt (Kaufstimmung). Oder wie Negri/Hardt es katholisch inspiriert ausdrücken: Das „neue soziale Fleisch“ kann „zu den Produktionsorganen des globalen sozialen Körpers des Kapitals gemacht werden“.

Für die Autoren geht die In-Wert-Setzung des Lebens mit einer politischen Ermächtigung der Menge einher. Konflikte manifestieren sich allerorten, z. B.: die Auseinandersetzung um Copyrights und Commons. Viele Produkte immaterieller Arbeit (Software, Texte etc.) sind erstens reproduzierbar (also nicht knapp) und zweitens das Ergebnis allgemeinen Wissens (das sich keinem Eigentümer zuordnen lässt). So gesehen ist die Rechtfertigungsgrundlage der bestehenden Eigentumsordnung dabei zu implodieren, während die Grundlage für das Gemeinsame, das Kommunistische wächst.

Das Meiste, was in „Multitude“ zu lesen ist, war in den Debatten der vergangenen Jahren bereits zu hören. Vieles daran ist nicht falsch. Es spricht tatsächlich Einiges dafür, dass Produktion und Menschheitswissen/Kultur heute enger miteinander verbunden sind als vor einem Jahrhundert. Und auch das Argument, dass die digitale Reproduzierbarkeit von Gütern die Notwendigkeit der Ökonomie (im Sinne von Haushalten) infrage stellt, klingt einleuchtend.

Auf der anderen Seite bleibt aber bei Negri/Hardt vieles einfach zu ungenau. Die von ihnen beschriebenen Tendenzen sind längst nicht so eindeutig wie unterstellt. Ein Fernsehabend vor zwei Wochen: Marcello Mastroianni antwortet in Dolce Vita auf die Frage, wann er denn arbeite, dass er genau in diesem Moment – nachts, trinkend, in einem Straßencafé – arbeite, denn hier treffe er Leute, unterhalte sich und erfahre Geschichten. Der Film ist von 1959 – war das Leben schon in den 1950ern ein ‚produktiver Gesamtkörper’? Im Übrigen wird auch jede Sekretärin, Empfangsdame und Krankenschwester des 20. Jahrhunderts bestätigen können, dass affektive Handlungen schon immer Bestandteil ihrer Arbeit waren. Vielleicht hat die ökonomische Theorie die Frage ‚immaterieller’ (bzw. ‚unsichtbar gemachter’) Arbeit bisher auch einfach nur unterschlagen?

Zu „Multitude“ wäre sehr viel mehr zu sagen als nur dieser Aspekt. Das Thema der immateriellen Arbeit ist hier als Beispiel für ein grundlegendes Problem bei Negri/Hardt angeführt. Bei den beiden Autoren hat man immer wieder den Eindruck, die Intention, Bewegungen auf der Straße mit dem Rückenwind einer historischen Tendenz (bösartig könnte man auch ‚Weltgeist’ dazu sagen) auszustatten, habe die Autoren dazu veranlasst, radikal zu beschönigen und zu begradigen. Der Wille, einen gut lesbaren, mobilisierenden Text zu schreiben, sollte jedoch nicht dazu führen, seine LeserInnen für blöd zu verkaufen. Aus Negris/Hardts Überlegungen ergeben sich prinzipielle Widersprüche zu Foucault, der Queer-Debatte und dem neueren Marxismus. Mit Foucault müsste man skeptisch gegenüber der Existenz historischer Tendenzen sein, zumal diese von Negri /Hardt immer wieder mit einem zentral gesellschaftlichen Antagonismus kurzgeschlossen werden. Man könnte fragen, warum sich Subjektivitäten am Ende doch wieder mit Produktivität erklären lassen müssen (und nicht z. B. auf der Grundlage sexuellen Begehrens agieren können). Oder mit marxistischen Autoren wie Moishe Postone und Michael Heinrich könnte man nachhaken, warum es für das kapitalistische Wertgesetz von Bedeutung sein soll, wenn statt Schuhen Software hergestellt wird. Negri/Hardt tun aber stets so, als befänden sie sich im besten Einvernehmen mit solchen Positionen. Statt die Einwände der vergangenen Jahre aufzugreifen, bleiben sie auf dem straighten Pfad des Manifests. Emphatisch betonen sie die Aktualität des republikanischen Denkens des 18. Jahrhunderts und erklären optimistisch, die Krise der Repräsentation (Stichwort: „Que se vayan todos“ – „sie sollen alle abhauen“), die Herausbildung des ‚Gemeinsamen’ und der Wunsch nach Demokratisierung falle heute immer stärker in eins.

Lesenswert bleibt „Multitude“ dennoch. Allein wegen der Tatsache, dass sie mit ihrem Versuch eines umfassenden Entwurfs eine so unterschiedliche Leserschaft angesprochen haben und die Begriffe ‚Kommunismus’ und ‚Demokratie’ aus ihren Einhegungen befreit haben, verdienen Negri/Hardt Respekt. Doch produktiv wird ihre Lektüre wohl nur, wenn man den unsäglichen Hype um die beiden beendet und eine offene, nicht von Moden und Distinktionsgebaren bestimmte Diskussion führt. In diesem Sinne sei hier auch auf die von Übersetzer Thomas Atzert herausgegebenen Bücher „Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität“ und „Kritik der Weltordnung“ sowie die französische Zeitschrift Multitudes verwiesen.

 

Raul Zelik

 

 

Michael Hardt / Toni Negri: „Krieg und Demokratie im Empire“ (Campus-Verlag)

 

Thomas Atzert / Jost Müller: „Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität“ (Verlag Westfälisches Dampfboot)

 

Thomas Atzert / Andreas Fanizadeh: „Kritik der Weltordnung“ (Verlag ID-Archiv)

 

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