6. Oktober 2004

Schwanger im Ohr

 

"Wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich." Die kleine Enni aus Sandra Hoffmanns Roman "Den Himmel zu Füßen" ist wohl noch zu jung und zu beschäftigt mit Ballett-Übungen, um Paul Celans Einsicht in die Allgegenwärtigkeit des Abgrunds sich vergegenwärtigen zu können. Deshalb versucht sie noch, mit täglichem Handstand unter dem Dachfenster dem Schrecken ihrer Kleinfamilie zu entfliehen. Wenn sie so ihre Beine hochstreckt, "lag ihr der Himmel zu Füßen".

 

Nur kann sie nicht den ganzen Tag über in dieser Stellung verharren, und der Himmel bleibt letztlich ein sprachloses Gegenüber. So flüchtet sich Enni bald in eine realitätsferne Traum- und Albtraumwelt voller Ängste und Zwänge. Enni ist die Tochter einer ganz normalen Horrorfamilie. Die Oma katholisch, der Vater Buddhist. Der Bruder mit einer gräulichen Hautkrankheit absorbiert die Aufmerksamkeit der Mutter fast vollständig, sodass Enni, allein gelassen, nahezu ungestört eine typische Teenagerpsychose entwickeln kann. Sie wird magersüchtig.

 

Solcherlei Problemgeschichten gibt es etliche zu lesen. Das Besondere an Hoffmanns Erzählung besteht jedoch darin, dass der Krankheitsverlauf zunächst einmal gar nicht so vorhersehbar ist. Enni gibt anfangs den Clown, nicht den sterbenden Schwan. Doch ihre Kontroll-Ticks nehmen immer mehr Überhand - etwa wenn sie den Pfosten neben dem Süßigkeitenautomaten mit der Schulter streifen muss oder immer wieder ein altes weißes Brötchen in kleinen Krümeln an die Tauben verfüttert.

 

Kontrollwahn und Schuld sind Ennis Problem. Eine quasi magische Vorstellung von Zusammenhängen und Verantwortung. Alles, was sie denkt, tritt ein. Vor allem die schlechten Dinge. Wenn Enni auf Großmutter wütend ist, da diese wieder ihr Tagebuch eingesehen hat oder ihre Bravo-Hefte stiehlt, büßt sie dies mit unzähligen Vaterunsern.

 

Die Struktur des Romans ist seelenarchitektonisch im gewissen Maße ausbeutbar, vom Keller mit meditierendem Vater über das Obergeschoss mit frömmelnder Großmutter bis zu Ennis Dachfenster mit Blick auf den Himmel. Die christologisch wahnhafte Vorstellung Ennis, durchs Ohr schwanger geworden zu sein, wie Maria ohne Geschlechtsakt, wird mit fernöstlichem Atmen in die Füße und unaufhörlichem Springen, also abmagern, zu kontrollieren versucht. Ein fataler Versuch, zwei Weltreligionen am eigenen Leib gegeneinander auszuspielen.

 

Bei Jugendromanen geht es vor allem um Schuldfragen, die in Romanen wie in der Realität mit Willen, also extra, in der Beantwortung knapp verfehlt werden. Als Leser weiß man so alles besser; der Realistik des Romans wird durch viele Marginalien Rechnung getragen, die das Problem scheinbar entschärfen, ohne die Zuspitzung der Verhältnisse zu verhindern.

 

Denn dass Enni Schuld hat an den Bösartigkeitsattacken ihrer Oma wie an dem Jahre zurückliegenden Badeunfall ihres Bruders, ist offensichtlich Blödsinn. Ihre Psychose gedeiht im Schatten ihrer irrationalen Ängste. Die heikle Frage, ob man sich seine Psychosen durch Training und Verdrängung zuzieht, also ob man selbst schuld ist an etlichen beschissenen Jahren, kann man sich beim Lesen von "Den Himmel unter den Füßen" stellen. Sandra Hoffmann thematisiert diese Frage nicht explizit. Dennoch ist es möglicherweise der skeptische Unterton dieses Romans, der ihn von der pädagogischen dtv-Pocket-Bücher-Reihe für Jugendliche unterscheidet. Das Umfeld und die bösen Drüsen und der anorexieverdächtigste Sport der Welt sind erst einmal typische Mädchenthemen. Die Abwesenheit eines lebenspraktischen Erkenntnisgewinns gepaart mit einer größtenteils gelungenen anpoetisierten Sprache macht den Roman aber doch zu Erwachsenenliteratur.

 

 

Sandra Hoffmann: "Den Himmel zu Füßen". C.H. Beck, München 2004. 160 Seiten, 14,90 Euro

 

taz Nr. 7480 vom 6.10.2004, Seite 9, 131 Zeilen (Kommentar), GUSTAV MECHLENBURG,  Rezension

 

© Contrapress media GmbH

Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags

 

amazon