28. September 2004

Fragment und Ärger

 

20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wächst ein russischer Waisenjunge in Stalingrad auf. Wälder von Gedenkstätten und riesige Ehrenmale aus Beton werden vom sowjetischen Regime errichtet, um die Schlacht von Stalingrad zu würdigen. Die verwaisten Kinder dürfen nun die Schmach ihrer nicht linientreuen Soldatenväter, welche längst elendig in Gefängnissen gestorben sind, durch Spalierstehen bei militärischen Gedenkfeiern oder beim Steineschleppen abbüßen.

 

In „Himmel und Erde des Jacques Dorme“, dem letzten Teil der russisch-französischen Trilogie von Andreï Makine, ist die einzige Zuflucht für den Waisenjungen die alte Französin Alexandra. Sie kannte seine Eltern, durch sie erlernt er die französische Sprache, und in ihrem Haus verschlingt er die französischen Klassiker, die er in einer nahezu heruntergebrannten Bibliothek findet.

 

Als Erwachsener lebt er als Schriftsteller in Frankreich und versucht, einen Roman zu schreiben. Er will die tragische Geschichte von Alexandra und dem französischen Piloten Jacques Dorme aufzeichnen, der im Zweiten Weltkrieg für Russland Bomber aus Amerika überführte und mit einem Flugzeug an einer Gletscherwand in Sibirien zerschellte. Hier lässt der selbst in Russland aufgewachsene und nun in Paris lebende Autor Makine ein Buch im Buch entstehen und tut seinem Roman damit nichts Gutes. Die eigentliche Geschichte des Waisenjungen und dessen Roman über den Flieger Jacques Dorme zersplittert in lose Fragmente.

 

An geschichtlich gewichtigem Erzählstoff und ins Herz treffenden Formulierungen mangelt es dem Roman nicht: Das Schicksal des Waisenjungen, seine Suche nach Identität, Heimat und Wahrheit in der Person Jaqcues Dormes, die Geschichte von Alexandra, das alte und das neue Russland seien hier beispielhaft als Themen genannt. Doch der „moderne“, mittlerweile fast inflationär erscheinende Erzählstil der Zeit- und Realitätssprünge zerstört leider die Wirkung der behandelten Sujets.

 

Immer wieder auf die Folter gespannt und dadurch auch bei der Stange gehalten, erzeugt Makine beim Leser seines fragmentarischen Werks eine ärgerliche Leere.

 

Ina Weidmann

 

Andreï Makine: „Himmel und Erde des Jacques Dorme“, Hoffmann und Campe 2004

 

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