16. September 2004

"Geschichtswollen"

 

Haben Sie in Ihrem Mittelalter bereits an eine Schönheitsoperation gedacht?

Und welchen utopischen Idealzustand Ihres Leibes wollten Sie dann restaurieren lassen? Schwierige Fragen, zumal wenn Sie Staatspräsident sind, denn dann gewinnt die Entscheidung des Stils (50er, 60er, 70er, 80er Jahre) nationale Bedeutung.

 

„Jede vermeintliche Darstellung VON etwas ist zugleich eine Darstellung ALS etwas.“ Diese Erkenntnis ist die Basis für Reflektion, und so schön man Künstler damit arbeiten lässt, so verboten ist es den Wissenschaftlern, die gleichwohl auch nicht da rauskommen und immer nur feststellen können, was früher falsch dargestellt wurde, ihre derzeitigen „Fürwahrhaltungen“ aber die Bewährungsprobe nachfolgender Rezeptionsweisen noch zu bestehen haben.

 

Wunderbar komisch im Hintergrund dieser abgeklärten und hintereinanderweg gut lesbaren Vorträge die erbitterte Forderung nach der berühmten wissenschaftlichen Grundlage. Die Verstrickung der Architektur- und Kunsthistoriker, die kanonbildend das „Geschichtswollen“ ihrer Zeit konturieren, sind komplex und seit Bestehen ihres Berufes weniger wissenschaftlicher als nationen- also identitätsstiftender Natur.

 

Die denkmalpflegerischen Interventionen, die in streng wissenschaftlicher Ausgrübelung zustande kommen, werden immer selbst Teil der historischen Substanz. Zum Beispiel der Kölner Dom, gewaltiges und vermeintlich einheitliches Werk der Kathedralgotik in Deutschland ist erst zur Zeit der Romantik als nationales Symbol mit viel Vollendungsgeschwafel und pathetischer Epochenimagination zu seinen echt gotischen Türmen gekommen.

 

Dieses Vollendungsdenken, welches jedes komplexe disparate Gebilde auf einen total absolut wasserdichten Block zusammenschmilzt, wird ohnehin noch für viel Freude unter den Menschen sorgen, die konsequent zur Tat schreiten und ganze Landstriche schleifen, weil es einfach unerträglich ist, wenn Dinge nicht so aussehen, wie sie, die im Besitz der Wahrheit sind, sich das ausgedacht haben.

 

Es gibt keine Epochen im objektiven Sinne, nur ein zu Sinnformen verdichtetes, perspektiviertes und unbedingt nachträgliches Schauen auf geschichtliche Zeit. Mit dem Ergebnis, dass man auch als Bürger des 21. Jahrhunderts mit Einfühlung und Imagination eine eigentümliche Verschränkung von Dokumentation, Reproduktion und Erfindung zu Wege bringt, die gotischer ist als die Gotik. Ein lupenreiner Stil, den es nie gab. Das gilt genauso für die Aneignung jeder anderen Zeit. Jedes Mal homogenisiert und idealisiert man. Aus disparater Masse wird, nach Maßgabe jeweiliger Gegenwart, Sinn gemacht.

 

Diese Sinnstiftungstechnik anhand scheinbar unbestechlicher, weil objektiv vorhandener Baudenkmäler hat schon die ulkigsten und oft tragischsten Erregungszustände nationaler Seelen befeuert. Es gibt Restaurationsskandale, absichtliche Fälschungen und Verblendungszusammenhänge in jeder Form.

Was sehr praktisch ist, man kann denselben Bau gleichzeitig mit den unterschiedlichsten Ideologien befrachten. Wenn die Baumaßnahmen beginnen, ist es damit aber vorerst vorbei. Der Verzicht auf Einhegung und Abgrenzung von Kulturleistungen und Kulturnationen ist unmöglich, da mit dem Lösen einer solchen Identitätsverbindung (Nation und Baudenkmal) auch die Pflege dieser Bauten obsolet wird. Denkmalpflege bleibt die Ressource im Streit um Souveränität, Identität und Nation.

 

Dass dabei immer mal wieder ein restauratorisches Panoptikum entsteht, welches in lauterer Begeisterung „gewordene“ Bauten zu ihrer „gewollten“ Form verhilft, wird auch in Zukunft nicht zu verhindern sein und ist zudem für die nachträgliche Überschau einer Zeit hochinteressant, man kann die Realität der Zeit an ihrer spezifischen Fiktion ablesen. Es geht immer um Perfektion der Geschichte, und die sieht jeweils anders aus.

 

Wenn ein Forscher die politische Instrumentalisierung seiner Ergebnisse verhindern will, sprengt er den fachwissenschaftlichen Rahmen. Angemahnt wird aber genau diese Distanz gegenüber nationalen Interessen und nicht nur dialektische Historisierung. Schwierige Sache, zumal man schon wieder nicht weiß, in welcher Wahrheitskonstruktion man sich befindet. Forscher können sehr gelehrt sein, aber sie kommen nicht raus aus der Verstrickung. Die neun Vorträge referieren dies eindrucksvoll.

 

Nora Sdun (9. 04)

 

Hg. von Otto Gerhard Oexle, Áron Petneki und Leszek Zygner: Bilder gedeuteter Geschichte. Das Mittelalter in der Kunst und Architektur der Moderne, 9 Vorträge, 2 Bände, 500 Seiten, Wallstein Verlag 2004

 

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