9. September 2004

Der Erfinder von klein a

 

Es ist sicherlich kein Zufall, dass zur selben Zeit, als Sigmund Freud über die Sexualität des Kindes arbeitete, Rémy de Gourmont, zwei Jahre jünger als der Begründer der Psychoanalyse, sich über die Sexualität bei den Tieren, worin er den Menschen einschloss, Gedanken machte. 1903 erschien „Physique d’amour“ in Paris, 1910 zum ersten Mal in deutscher Sprache. Während Freud das Kind als bereits sexualisiert beschrieb, ohne es damit für was auch immer freizugeben, dimmte Gourmont ein allzu ätherisches Vorurteil herunter, nach dem der Mensch im Grunde eine schöne Seele sei, die sich nur manchmal in die Abgründe des Fleisches verirre. „Es ist kein bodenloser Abgrund zwischen Mensch und Tier…“, lässt er den Leser wissen, dem er in 20 Kapiteln vorführt, dass die angeblich so esoterischen Übungen, die der Erotiker im Laufe der Zeit (also schon ziemlich früh) erfand, sich in splendider Vielfältigkeit auch im Tierreich beobachten lassen. Überhaupt: „Was ist das Ziel des Lebens? – Die Erhaltung des Lebens.“ Das klingt erstaunlich modern, auch wenn Gourmont als Kind seiner Zeit gewisse misogyne Züge nicht ablegt und etwa die angeblich zugunsten des Mannes verlaufene Gehirnwiegerei wie viele andere auch dafür in Beschlag nimmt, vom „physiologischen Schwachsinn des Weibes“ zu sprechen.

 

Es gibt andererseits Großartiges zu entdecken, speziell im Zusammenhang seiner Betrachtungen zum Phänomen der so genannten Parthenogenesis, also der Jungfrauengeburt. Gourmont bezeichnet es als Illusion, von der Befruchtung der Frau durch den Mann zu sprechen: „das, was eigentlich geschieht, ist gleichzeitig unendlich geheimnisvoller und unendlich einfacher. Vom Männchen groß A [sic] und vom Weibchen groß B werden ohne irgendwelche Befruchtung, ohne äußere Einwirkung Männchen klein a [doppel-sic] und Weibchen klein b erzeugt. Diese Männchen nennen wir Spermatozoiden, die Weibchen Eier. Und zwischen diesen beiden neuen Wesen, zwischen diesen Sporen, findet die befruchtende Begattung statt.  – Wie wir also sehen, lösen sich klein a und klein b zu einem dritten Tierchen auf, das durch natürliches Wachstum zu groß A oder groß B wird. Dann wiederholt sich der Kreislauf. Die Vereinigung zwischen groß A und groß B ist nur eine Vorbereitung; groß A und groß B sind nur die Vermittlungsglieder zwischen klein a und klein b.“

 

Ziemlich genau zu der Zeit, als diese Betrachtungen angestellt wurden, fanden sich irgendwo in Frankreich im Schutze zweier großer As und Bs zwei parthenogenetische Produkte zusammen, also ein kleines a und ein kleines b, aus deren Vereinigung ein Wesen entstand, das diese Terminologie von groß A und klein a einer Revision unterzog und sie in eine bereits mehr als rudimentär bestehende Theorie des Menschen als „Sprechwesen“ integrierte. Dieses Wesen war kein anderer als Jacques Lacan, von dem hier also vermutet wird, dass er sich diese Steilvorlage einer hippen Zeichensprache nicht entgehen lassen konnte. Klein a als „Objektursache des Begehrens“, das ist der unhintergehbare Rest der Natur, der immer mit im Spiel ist, auch wenn heutzutage gute Voraussetzungen bestehen, dass dieser Rest den Betroffenen nicht übel mitspielt.

 

Dieter Wenk (09.04)

 

<typohead type=1>Rémy de Gourmont, Physik der Liebe. Über das sexuelle Verhalten der Tiere, München 1990 (Schneekluth)</typohead>