29. August 2004

Big-Brother, global-experimental

 

Es ist wohl so, dass die wichtigsten Experimente noch nicht gemacht wurden. Natürlich ist es ein Segen für die Menschheit, dass man seit Pawlow versteht, wie man aus einem Hundemagen zwei macht. Auch möchte man ungern auf die fluoreszierende Maus verzichten, die es mit einem beherzten Sprung sogar in die Welt der Kunst geschafft hat, in der sie als Leuchthase ankam. Und doch ist es ein ziemlicher Skandal, dass man immer noch nicht weiß, ob der Sozialismus nun endlich einmal abgehakt werden kann oder ob sich die Demokratie auf eine freche Dauerkonkurrenz aus dem Windschatten der Vergangenheit gefasst machen muss.

 

Vielleicht sollte man deshalb auf eine Experimentalanordnung zurückgreifen, die Alfred Polgar vor knapp siebzig Jahren ins Spiel brachte und die so einfach wie genial ist. Den Anstoß brachte eine Meldung aus Ekuador: „Die Regierung hat dreißig Kommunisten, die von anderen benachbarten Ländern nicht aufgenommen wurden, nach den Galapagos-Inseln deportiert. Die Regierung gibt bekannt, dass die deportierten Kommunisten auf den Galapagos-Inseln ihren Kommunismus ausüben können.“ Man versteht, dass diese Meldung im Jahr 1936 gewisse Überlegungen in Richtung Auslagerung der einen oder anderen Weltbeglückungs- und Nationalausdehnungsmaschinerie auslösen konnte. Kurz vor Heiligabend 1936 konnte man im „Pariser Tagblatt“ also folgenden Vorschlag Polgars lesen: „… wäre es nicht sehr interessant, lehrreich und etwas durchaus Neuartiges, eine Ausstellung zu veranstalten, eine Great Show, wo die verschiedenen politischen Systeme in beispielhaft vollem Betrieb gezeigt würden, naturgetreu und lebensnah? Also etwa eine kommunistische, eine nationalsozialistische, eine faschistische, eine anarchistische Siedlung etc., bevölkert von Originaltrupps der respektiven politischen Färbung?“

 

Wenn am heutigen Tag Olympia zu Ende gegangen sein wird, wird es ganz bitter werden. Gut, die Bundesliga hat wieder angefangen, aber ist das wirklich ein Trost? Erst in zwei Jahren Fußball-WM, allerdings in Deutschland. Alfred Polgar hat Big-Brother auf gigantischem Niveau antizipiert, das Container-Format ist noch lange nicht ausgereizt, und man könnte ja schon mal anfangen zu überlegen, welche zeitgemäßeren Kandidaten zugangsberechtigt wären. Die ganze Welt würde über die Top-Ten des Vielversprechenden abstimmen (eine Miniversion der jetzigen Weltlage würde als grober Vergleichspunkt mitlaufen), und nach vielleicht einem Jahr hieße es dann zum ersten Mal: top oder flop. Die Olympischen Spiele des Politischen, des Religiösen, des Politisch-Religiösen, des Theokratisch-Abstrakten, des Teleologisch-Konkreten und und und.

 

Alfred Polgar ist freilich nicht nur ein ingeniöser Ideenanreger und Experimentalarchitekt, sondern auch ein bravouröser Analytiker gescheiterter Experimente. Notgedrungen beschäftigt sich die erste Hälfte dieses ersten Bandes kleiner Schriften mit der „großen Zeit“ des Ersten Weltkriegs, ganz ohne große Klappe, vielmehr führt Polgar die große Klappe vor und damit ad absurdum. Wenn Polgar sich zum Beispiel den Futuristen Marinetti vornimmt und dessen Vorkriegsmanifest mit den aktuellen physikalisch-sensorischen Bedingungen des Kriegs vergleicht, denkt der spätere Leser natürlich gleich an Ernst Jünger in Paris oder an Stockhausen vor der Kiste anlässlich einstürzender Nicht-mehr- ganz-Neubauten. Woraus wir lernen, dass Kontemplation nicht gleich Beobachtung ist. Die zweite Abteilung von „Musterung“ widmet sich der Welt des kleinen Mannes, vor allem den verunglückten Lebensentwürfen straffällig gewordener Subjekte, denen die Justiz ein neues Terrain zuweist in Form überschaubarerer Verhältnisse. Was man allein in diesem Band von Polgar geboten bekommt, ist dagegen überwältigend. Das Einzige, was einen traurig stimmt, ist, dass dieser Mann nicht heute schreibt.

 

Dieter Wenk (08.04)

 

Alfred Polgar, Musterung. Kleine Schriften, Band 1, herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl, Reinbek bei Hamburg 2004 (rororo), Neuausgabe